MITGLIEDER
Text von:Markus Grundtner
DER FALL DER FANTASIE (Romanauszug)
Auszug aus dem zweiten Aktenstück:
FRISCH VERBLICHEN
Anwalt Anatol Altmann lief die Wendeltreppe im Höchsten Gerichtshof hinauf und hinunter. Sein Kopf drehte sich. In jedem Stockwerk versuchte er erneut jede Türklinke. Oben angekommen, kurz bevor er nur noch den Weg aufs Dach suchen konnte, um herauszufinden, ob es die Option gab, sich hinunterstürzen, fiel ihm auf, dass die Zugänge zum Großen Sitzungssaal nicht nur offen standen, nein, es gab gar keine Türen mehr.
An der Wand neben einem der Türstöcke klebten wirr angeordnete Zettel, wie sonst in den Kanzleien über den Schreibtischen der Rechtspfleger und Rechtspflegerinnen angebracht – mit Klebestreifen oben und unten fixiert, der Klebstoff bereits gelblich, das Papier gewellt und verblichen. Per Schreibmaschine darauf getippt war eine stilistisch-inhaltliche Mischung aus administrativem Aushang und ineinanderlaufenden Kalendersprüchen. Eine amtliche Legende, die Altmann für sich aus ihrer bürokratischen Sprache übersetzte: Sie berichtete davon, dass Recht in Gerechtigkeit steckte, und, so wie bereits im Wort, es sich bei Recht immer nur um eine Schnittmenge mit Gerechtigkeit handelte. Recht konnte gerecht sein, gerecht konnte aber viel mehr sein. Für dieses Mehr hatte sich die Justiz jedoch unzuständig erklärt und dazu einen eigenen Aktenschrank in ihrem allerobersten Stockwerk angelegt, zur Bearbeitung durch eine weisungsfreie und unabhängige Abteilung, die jedoch nie mit der notwendigen Rechtskraft ausgestattet und vollständig besetzt worden war. Altmann rang nach Atem, denn plötzlich schrieb nach der Anmerkung zur fehlenden Rechtskraft und der nie vollständigen Besetzung eine unsichtbare Hand hinzu: „Bis jetzt.“