MITGLIEDER

Inselbiogeografie

Allen Inseln ist eines gemeinsam: Sie können nur in der Isolation existieren. Deshalb existieren heute keine Inseln mehr. Der Mensch hat sein Ziel erreicht und sie alle entdeckt.
Vor der Ankunft des Menschen waren alle Inseln einzigartig. Jede beherbergte einen flugunfähigen Vogel, der nur dort existierte, eine ihr eigene Riesenschildkröte, einen Strauch oder Baum, der einzig auf ihr wuchs. Heute sind alle Inseln gleich. Es genügte eine Schiffsmannschaft, eine schwangere Ratte, ein paar Ziegen. Alle Inseln verloren, was an ihnen einzigartig war. Man hat heute keine Vorstellung mehr davon, was eine Insel ist. Was man noch sieht, was man für das Ganze hält, ist nur ein Rest, ein Bruchteil und Bruchstück. Alle Inseln sind heute mit dem Festland verbunden, selbst die abgelegensten. Zwischen allen Orten besteht dieselbe Distanz, es gibt keine Entfernung mehr, und keine Nähe.
Der Versuch, sich selbst eine Insel zu schaffen, ist vergeblich. Man kann es tun, man kann auf das Land ziehen, in ein Haus mit Garten, und dort sein eigenes Obst und Gemüse anbauen. Man kann so tun, als existiere die Stadt nicht und nicht die Industrielandschaft, aber es gelingt nur auf Zeit und diese Zeit ist ein Warten. Man wartet, ob das Land trägt, man wartet auf das Stürzen der Bäume, auf die Umsiedelung. Wer auf einer Insel lebt, wartet auf die Entdeckung.
Irgendwann fährt ein Bus mit einer Firmenaufschrift vor und holt dich ab. Eine Planierraupe mit der gleichen Aufschrift kommt und drückt die Häuserwände ein. Ein Bagger reißt den Boden auf, um ihn den Energiefeldern ringsum gleichzumachen.
Die letzte Insel ist man selbst. Man lebt in der Stadt, losgesagt von den Menschen, zu denen man nie Mama und Papa sagen durfte, weil sie deine Autonomie fördern wollten. Man hat sie in einem Umsiedlerasyl zurückgelassen, während man selbst sich in seinem Inneren verkriecht, dem letzten Ort, wo niemand hinkommt, weil man zu alt für einen Kopfraum ist.

[Auszug aus dem Roman „Die Halbe Welt“, Milena Verlag 2023]