MITGLIEDER
Text von:Ljuba Arnautović
Erste Töchter (Auszug)
Ein Saal mit hohen Fenstern und langen Tischen. Linoleumboden. Ein Raum für viele Zwecke. Hier werden Mahlzeiten eingenommen, hier werden Hausaufgaben gemacht, hier wird gespielt. Es riecht muffig, nach Lauge und Suppe. Und dann ist da noch ein Geruch – er erinnert an warme Semmeln, so riechen Kinder.
Der Vater muss die kleinen Finger aufbiegen, um seine Hände frei zu bekommen. Er flieht zum wartenden Taxi und blickt sich kein einziges Mal um zu seinen Mädchen, die ihm nachschreien, fassungslos, verzweifelt. Blind vor Tränen versuchen sie mit aller Kraft, sich loszureißen. Aber eine große dicke Frau hält eisern die kleinen Handgelenke fest. Betrogen. Verlassen. Ausgesetzt.
Es war ein warmer Sommertag, eine Fahrt mit einem Auto – wie aufregend! Ein Ausflug aufs Land, Blumenwiesen, ein plätschernder Bach, Einkehr im Gasthaus, Würstel und Limonade.
Bei Kakao und Apfelstrudel beginnt der Vater von seiner Kindheit zu erzählen, wie schön er selbst es einst in einem Kinderheim gehabt habe, und ob man sich nicht gleich eines anschauen wolle, das zufällig hier ganz in der Nähe liegt?
»Stellt euch das nur einmal vor, so viele Kinder, nie wird euch langweilig. Immer ist jemand da zum Spielen.«
Eine böse Ahnung steigt auf.
Beim Rundgang durch das riesige Haus mit den dunklen Winkeln und dem seltsamen Geruch lassen die Kinder die Hand des Vaters keinen Augenblick los. Es wird nichts nützen. Tante Wallys kalte Finger sind stärker.
An diesem ersten Abend wollen die Neuen nichts essen, sie haben das üppige Gasthausessen zu verdauen, dazu diesen Stein im Magen, der aufs Herz drückt. Es gibt Nudeln mit Paradeissoße, alles muss aufgegessen werden, in dem riesigen Saal, unter den neugierigen Blicken fremder Kinder. Die Große schafft es irgendwie, das Zeug hinunterzuwürgen. Die Kleine erbricht sich in ihren Teller. Tante Wally vermischt alles gut miteinander, nimmt das vom Schreien rot angelaufene Gesichtchen in die Zange ihrer dicken Arme und stopft den Löffel in den kleinen Mund. Der Großen schnürt sich der Hals zu, sie meint zu ersticken, fast hätte auch sie sich erbrochen.
(...)
Für Buben und Mädchen gibt es unterschiedliche Arten der Bestrafung. Mädchen müssen Schuhe putzen, und zwar alle Schuhe sämtlicher Kinder, was einen ganzen verpassten Spiel-Nachmittag bedeutet. Buben werden im Sommer vor versammelter Schar mit dem nackten Hintern in die Brennnesseln hinter dem Haus gedrückt, im Winter in den Schnee. Die Mädchen brauchen das nicht zu fürchten, dennoch macht es sich die Große zur Gewohnheit, in unbeobachteten Momenten ihre nackten Arme und Beine durch die Nesselstauden zu ziehen, dabei empfindet sie das Brennen als eigenartigen Triumph. Sie macht sich stark gegen den Schmerz, und zugleich spürt sie, die sich so oft versteinert, dabei für wenige Momente ihren lebendigen, warmen, empfindenden Körper.