MITGLIEDER
Text von:Reinhard Tötschinger
Zweites Leben – Romanauszug
Als Philip erwachte, fiel ihm das Foto ein. Er hatte es am Vortag in der Hand gehalten. Aus Louis Unterlagen, die sich über den Couchtisch verteilten, zog er es hervor, über das Hoteltelefon bestellte er ein Frühstück. Dann schlüpfte er in das Hemd von gestern und ließ sich in das Sofa sinken. Die Oma und ein junger Mann. Sie lächeln, nicht mit einem künstlichen Fotolächeln, sie strahlen Freude aus, sitzen nahe aneinander, jung, er mit durchtrainiertem Oberkörper und Arbeitshose, sie ein Kopftuch über und eine Schürze um. Konnte man in jener Zeit glücklich sein, oder nur zufrieden, dass man überlebt? Philip wendete das Foto. Erna, mon amour et moi. 3 janvier 45. Louis? Gerüchten zufolge, hatte sich doch Opa für seine Großmutter interessiert. Er war dreiundvierzig aus Stalingrad zurückgekommen, kriegsversehrt, ein Bein steif. Das war zu der Zeit normal. Alle hatten etwas weg. Opa hatte zumindest noch Arme und Beine. War er seit damals mit Oma oder schon davor? Oma mit beiden? Konnte Louis Deutsch? Oma konnte doch nur wenige Worte Französisch. Oder war sie Louis nur einmal so nah gekommen, dass daraus sein Vater entstanden war. Die Franzosen hatten mit den einheimischen Frauen Kontakte, viele, sie waren beliebt. Frauen wurden vergewaltigt, aber nicht von den Franzosen, sagte man im Dorf, und erst nachdem die Russen das Kriegsgefangenenlager eingenommen hatten.
Während Philip das Tablett mit dem Frühstück entgegennahm, läutete sein Telefon
Bist du noch immer in Paris?
Er hatte abgehoben, obwohl er mit seiner Mutter nicht sprechen wollte.
Ja. Und ich muss länger bleiben, ich habe hier noch einiges zu erledigen.
Stell dir vor, die Claudia, du kannst dich an sie erinnern, meine alte Freundin aus Kaisersteinbruch hat sich gemeldet. Ich habe sie schon ewig nicht gesehen. Sie ist zurückgekommen, sie will mit ihrer Tochter hierbleiben.
Ja, Mama, schön.
Du musst auch schauen, dass du wieder eine Frau bekommst. Sie hat eine Tochter in deinem Alter, geschieden.
Nein, Mama, jetzt nicht.
Du kannst nicht so lange allein sein. Ich habe beide am Sonntag zu mir eingeladen, da kommst du auch und lernst sie kennen.
Nein, ich bleibe noch hier.
Du bist wie dein Vater.
Lass Papa bitte aus dem Spiel.
Philip zögerte, sollte er den Brief nun doch ansprechen?
Weißt du etwas von einem französischen Kriegsgefangenen, den die Oma kannte?
Es gab viele Franzosen im Dorf. Kommst du am Sonntag?
Von einem Louis?
Ich kam doch von Aussen. Bei uns waren keine Franzosen.
Papa hatte nicht Opa, sondern einen anderen Vater.
Sie ist sehr fesch, Philip.
Hast du gehört, Papa hatte einen anderen Vater.
Ach, die alten Geschichten. Er hatte einmal nachgeforscht. In seiner Geburtsurkunde stand dein Opa als Vater. Musst du in der Vergangenheit wühlen? Es war so schrecklich damals, ich bin froh, dass die karge Zeit vorbei ist. Schau lieber auf die ...
Auf dem Friedhof liegen Franzosen begraben.
Ich mache am Sonntag den Streuselkuchen, den du immer so gerne hast.
Mama, ich bleibe hier. Ich gehe der Geschichte um Papas Erzeuger nach.
Gibst du wieder Geld aus. Wir haben sparen gelernt.
Gut Mama. Ich melde mich wieder.
Überlege es dir noch einmal, hörte er noch.
Zweites Leben – Romanauszug (August 2022)