MITGLIEDER

Text von:
Eva Schörkhuber

Prolog aus: Die Gerissene


So viele Wendungen mein Leben auch genommen, so viele Höhen- und Tiefflüge es auch vollzogen haben mag, der Sternenhimmel ist mir nie die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege gewesen. Das Licht der Sterne hat meine Wege stets in jenes blau gewandete Zwielicht gehüllt, in dem der Horizont verblasst und sich nicht mehr von dem Wogen, dem Auf und Ab einer irdischen Existenz unterscheiden lässt. Ich habe zwar das eine oder andere Mal nach den Sternen gegriffen, ja, auch ich wollte Teil sein der Gestirne, die eine leuchtende Krone bilden, doch habe ich nie davon absehen können, dass der Großteil unseres Universums aus unsichtbarer, dunkler Materie besteht. Ihr ist es zu verdanken, dass sich alles in seinen Umlaufbahnen bewegt, dass alles um irgendetwas anderes kreist.

Wo viel Licht ist, ist noch mehr Schatten, ein kompakter, undurchdringlicher Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Das Universum ist eine riesige Saite, die in die Existenz hinein- und hinausschwingt, sich ausdehnt und dabei Klänge erzeugt, die einmal sagenhaft harmonisch, einmal ausgesprochen disharmonisch erscheinen. In Wahrheit handelt es sich um eine furchtbare Kakophonie, um einen wüsten und elementaren Klang, der auf nichts anderem als auf Zufall beruht – so wie das Leben, so wie mein Leben, das sich, wie das gesamte Universum, in der Einsamkeit eines einzigen Teilchens begründet.
Durch Zufall ausgeschlossen aus dem großen Gleichgewicht der Energie hat es sich aufgemacht, hat es sich auf die Suche begeben nach einer Bahn, in der es kreisen kann. Ein überschüssiges Elektron, ein freies Radikal, ein aus einer sozialen Umlaufbahn herausgesprengtes Individuum, ich kann es nennen, wie ich will. Zu allen Zeiten, an allen Orten haben Teilchen dieser Art, manche würden bestimmt auch sagen: dieser Unart, den gewohnten Lauf der dinge verändert, haben neue Bahnen eröffnet oder etwas Neues in Umlauf gebracht.

Prolog aus: Die Gerissene. Wien: Edition Atelier 2021