MITGLIEDER

Text von:
Margarita Kinstner

Auszug aus Papaverweg 6

Marias Haar auf dem Polster. Marias Lachen, die zarten Fältchen, die dabei auf ihrer Nase entstanden. Marias Knopfnase. Marias leuchtende Augen, als er ihr den Verlobungsring an den Finger gesteckt hat.
Peter sieht ihr ins Gesicht, dann wischt er vorsichtig mit dem Tuch darüber. Vorhin hat er die Wohnung gesaugt und die Möbel und Fensterbretter vom Staub befreit. Er zwingt sich alle zwei Wochen dazu, er hat es ihr versprochen.
Er stellt den silberfarbenen Rahmen wieder auf das Nachtkästchen. Niemand weiß von dem Foto. Dass es noch immer neben seinem Bett steht. Nein, nicht noch immer. Wieder ist das richtige Wort. Es steht wieder hier. Dazwischen gab es Jahre, in denen es in einer Lade lag. Peter hatte das Foto aus dem Rahmen genommen, in Plastikfolie eingewickelt und zu den restlichen Erinnerungen gesperrt. Viele waren es ohnehin nicht. Die Liebesbriefe der anderen Mädchen hatte er bereits bei seinem ersten Auszug von zu Hause entsorgt, und Maria hatte ihm nie welche geschrieben. Wozu auch? Liebesbriefe schreiben nur jene, die nicht erhört werden.
Maria war seine große Liebe. Die erste und die einzige. Statt sehnsüchtiger Liebesbriefe gab es Post-its. Unzählige kleine Zettelchen, die Maria an die gemeinsame Kühlschranktür, die Kaffeemaschine oder den Badezimmerspiegel heftete. Gelbe Zettelchen mit Marias dickbauchiger Schrift darauf, mit rosafarbenen Lippenstiftabdrücken in Kussform und roten Herzchen.
Wenn Peter von der Nachtschicht nach Hause kam, hatte sie schon drei Löffel Kaffee in den Filter der Kaffeemaschine gefüllt und ein Post-it darauf geklebt. Schlaf gut!, stand darauf, oder auch Gute Nacht! Er brauchte nur auf den Knopf der Kaffeemaschine zu drücken und die Kühlschranktür zu öffnen (nächstes Zettelchen), um nachzuschauen, was Maria ihm diesmal hineingestellt hatte. Manchmal war es ein Erdbeerjoghurt (Träum süß), manchmal ein Mousse au Chocolat (Schokoküsschen), wieder ein anderes Mal hatte sie ein Schüsselchen mit Tiramisu für ihn vorbereitet (Kuss aus bella Italia).
„Lächerlich“, sagte seine Schwester, als sie ihn eines Vormittags besuchen kam. „Ihr seid doch keine Teenager mehr!“
Bärbel ist vier Jahre älter als er. „Lächerlich“, würde sie auch jetzt sagen, könnte sie Marias Foto auf seinem Nachtkästchen sehen. „Ihr wart ja nicht einmal verheiratet. Komm endlich drüber weg!“
Warum sind eigentlich alle der Meinung, dass man die Toten vergessen muss? Als wären die Verstorbenen nicht mehr als kaputte Smartphones. Auf den Müll und weg damit, gibt eh schon das neue Modell. Alles ist austauschbar. Die Telefone, die Autos, die Haustiere, die Partner.
Bärbel verlangte, dass er Maria in eine Schublade legte und vorwärtsschaute.
»Das Leben geht weiter«, sagte sie.

(aus »Papaverweg 6«, Leykam Buchverlag, November  2018)