MITGLIEDER
Text von:Raphaela Edelbauer
Es war sechs Uhr zweiunddreißig
Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914, als der 17-jährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der KuK-Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.
Die leere Garnitur der Tiroler Nordbahn, in der er die Nacht durchwacht hatte, führte noch den Geruch von Zwiebeln und Petroleum in sich. Abends hatte die rumänische Familie, mit der er sich das Abteil teilte, unter lautem Getöse Brot und Zervelatwürste, Krautrollen und Salzgurken aus den Gepäcknetzen gefuhrwerkt, die als olfaktorische Figuration den Raum konturierten.
Bei Fahrtantritt hatte Hans versucht, es sich mit dem Lodenrock, den er dem Bauern aus dem Schrank gestohlen hatte, einigermaßen behaglich zu machen, und die über Innsbruck liegende Dunkelheit schon als seinen Komplizen bei seiner baldigen Rast gesehen – da hatte ihn der Mann in die Rippen gestoßen und ein Glas vor ihn gestellt. „Țuică“ sagte die Frau. Hans hatte den Kopf geschüttelt ohne zu wissen, ob auf eine Aufforderung oder eine Frage hin – doch hatte man ihm längst eingeschenkt. Die Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, baumelten schreiend am Gepäcknetz.
„Trebuie sa beți, austrieci!“, sagte der Mann und prostete Hans zu, der peinlich berührt gleich den ganzen Becher leerte. Er schüttelte sich unter dem Brennen des Fusels, und die ganze Familie brach in Lachen aus. Hans amüsierte sich erst mit ihnen, wusste aber nicht, ob und wie er sich bedanken sollte, und wandte sich bald dem Fenster zu. Die harten Holzbänke der dritten Klasse vernichteten ohnehin jede Hoffnung auf Schlaf.
„So unendlich weit“, dachte er, als die tiefen Klafter Tirols sich langsam ins moosige Grün verschlierten; die Tuxer Alpenmassive waren dem freiliegenden Horizont gewichen wie eine fortgezogene Stellwand.
Er hatte sein Tal seit sieben Jahren nicht verlassen.
Als sein Vater mit achtundzwanzig von einem Stapel niederfallender Tannenstämme erschlagen worden war, hatte der Prokurist der Firma seines Erzeugers ihn von Imst ins Unterland deportiert. Nach einer grauenhaft langen Messe, während derer Herr Jesu Christ, dein teuer Blut Hans stille Fürbitte begleitete, das Gespann des Prokuristen möge gestohlen werden, war er wie eine widerspenstige Ware verladen worden. Der Hof, an dem seine Mutter vermutet wurde, war so weit vom nächsten Gymnasium entfernt, dass der Hofbesitzer es nicht einmal aussprechen musste, dass es mit seiner Bildung schlagartig vorbei war. Düstere Gesichter an den Heuwendern und Ackerwalzern starrten ihn an, als ihm ohne ein einziges Wort – allein durch Gesten und das Zeigen einer Pritsche – sein Schicksal verkündet worden war. Er war zehn Jahre alt gewesen und war dem Hof nicht für einen einzigen Tag entkommen.
Im Zug fächerte sich die Landschaft vor Hans auf wie frisch erdacht: Dort drüben konnte man die Moldau entlang nach Prag gelangen – die Karlsbrücke hatte er einmal als Kupferstich auf einer Postkarte gesehen. Auf der anderen Seite, viel schwärzer dort, lagen Slavonien und Kroatien, wo im fruchtbaren Slave-Drau-Zwischenland Zuckerrüben und Mais besser gediehen als überall sonst im Kaiserreich. Er konnte Böden und Heu und die grasenden Bestutschew-Rinder beinahe greifen, so plastisch standen sie ihm vor Augen. Zerstreut begann er an den Kartoffeln zu kauen, die er sich roh als Wegzehrung in die Manteltaschen gestopft hatte. Er konnte die Augen nicht für einen Moment von der Landschaft nehmen, die sich vor ihm eröffnete wie eine immer weiter werdende Bucht.
Dort, wo viele Stunden später die Sonne aufgehen würde, lagen Siebenbürgen und die Bukowina, in der Robinienwälder die Karpaten ankündigten; da fielen ihm endlich die Augen zu.
Nun, als er erwachte, waren die Rumänen fort und der Eisenbahner machte bereits Anstalten, mit der Schaufel unter die Bank zu tauchen, sodass Hans sein hastig ausgestoßenes „Südbahnhof“ nur mehr am Rande erriet.
Im Versuch, den Mann möglichst wenig zu stören, turnte er um den eindringenden Stiel, und angelte den Sack, den er mit breiter Zaunschnur verknotet hatte, aus den Gepäcknetzen. Dann stolperte er durch die gelbschwarz vertäfelten Wagons mit einer Schwere, mit der einem nur viel zu kurzer Schlaf entkräften konnte. Er stieß die Tür auf, und war mit einem Schlag ausgenüchtert. Als er zum ersten Mal auf den Wiener Boden stieg, in die Bahnhalle, die mächtig vom Doppeladler des Kaiserreichs überflaggt war, war es ihm, als wollten die Posaunen von Jericho ihm das Fleisch von den Knochen reißen.
Rings um ihn schossen die Menschen wie Projektile; einander Zurufende, mit Hüten Winkende, Koffer Bugsierende, Dienende, Tragende, Fluchende. Aufgespannte Weite der Halle, die all diese gegeneinander taumelnden Menschen umfasste. Es pfiff und dampfte an der gläsernen Decke, dass Hans sich verschlungen wähnte.