MITGLIEDER
Text von:Lydia Mischkuling
Bericht an die Lebensberater
Von Lydia Mischkulnig, August 2021
Unser Peter ist weißhaarig. Er führt das Rudel an. Wir befinden uns in einem Saal und sitzen im Kreis. Wenige Männer und viele Frauen, die sich trauen, ihr Geld im dritten Lebensabschnitt auf eine Ausbildung zu setzen. Wir glauben an eine Zukunft, die letzte, die nicht so viel kosten soll wie eine 24-Stunden Pflege. Man müsse im Alter dazu verdienen, und wer so lange lebt, wie wir, müsse den Nachkommen zumindest noch eine Schuldner-Beratung hinterlassen können. Die letzten Stricke sind noch nicht gerissen, deshalb hängen wir an Peters Lippen.
Er verdient ganz gut. In der Benotung ist er großzügig. Man lernt viel. Zum Beispiel im ersten Seminar über das Selbstbild. Dazu betrachtet man sein Spiegelbild und beschreibt, was man an sich sieht. Ich muss einmal niesen.
Mag sein, dass der Spiegel eine Referenz ist. Er reflektiert den Körper als Instrument, das ich spiele. Und Peter fragt, wer spielt es noch? Wie ist es temperiert und wer hat es gestimmt? Ja, aus welchem Holz ist der Körper geschnitzt oder ist er aus Metall gegossen? Zangen haben ihn aus der Glut geholt und Hammerschläge haben ihn geschmiedet.
Dann verlangt unser Peter, dass wir entspannt ein- und ausatmen und uns vom Spiegel abwenden und uns von Gegenständen inspirieren lassen, wie etwa Bücher, Zweige, Töpfe, Zirkel, ja sogar von einer Wiege.
Mein Skript, das in mir angeblich schlummert bis zum Tod, soll ich aufschlagen und endlich beatmen. Distanz, steht da schwarz auf weiß, zu dir selber aufzubauen, erzeugst du, wenn du dich umkreist. Ich schlage mit den Armen. Ich kann um mich herumfliegen. Ich kann auch hinter mich fliegen und mir in den Nacken schauen.
Im Nebenzimmer schläft Peter und wir denken über unser Spiegelbild nach.
Die quantenphysikalische Behauptung, dass der Beobachter bereits das zu Beobachtende so verändert durch seine Beobachtung, dass er nie wissen wird, was das Beobachtete gewesen ist und sein wird, beruhigt mich herumfliegenden Vogel, da ja auch ich diesem übergeordneten Beobachter unterliege. Irgendetwas also dazu ist außer mir. Hab schon öfter Kontakt zu mir aufgenommen, Anteile herausgefiltert und in andere Personen implantiert. So wie Ärzte Organe einsetzen, kann ich Stimmungen und charakteristische Dinge in fremde Handlungen fremder Personen eintragen und daraus Skripten entwickeln. Alles was mich in Resonanz bringt, entspringt meiner Raison. Geschichten aufzupicken, hat mich schon sehr früh in Besitz genommen, am liebsten habe ich sie im Alltag gefunden. Sprache entsteht, wenn ich die Tastatur bediene, die Geschichte fängt aber schon viel früher an, sagte Peter.
In pädagogisch wertvollem Haushalt bin ich aufgewachsen, mit ein paar Büchern, was viel war für den Landstrich, nämlich Kommunikation, denn gesprochen hat niemand gern im Kreis der Familie. Märchen und Shakespeare und ein Buch über die Stunde Null standen in meiner Reichweite und daneben türmten sich noch kunstgeschichtliche Bände. Ich war ihnen überlassen. Vielleicht waren die Themen zu komplex, was sollten auch Eltern auf meine Fragen sagen.
Ich war lang irritiert von der Eifersucht auf die Liebe meiner Eltern , die sie einander entgegen brachten und das hat mich stumm gemacht. Symbiosen würde ich gern leben, aber das gelingt nur um den Preis der Autonomie. Identifikation heißt, dass die Begegnung mit der Welt das Subjekt verwandelt. Und anscheinend gewinnt der Mensch ein Selbstbewusstsein, wenn er sich im Spiegel sieht und sich mit diesem Bild identifiziert. So erscheint man sich als Ganzes. Es wird gleich wieder kompliziert, sobald man damit nicht einverstanden ist.
Das Gesicht ist der Sitz der Sinne und dahinter ist das Denken darüber, und dann entsteht das Bewusstwerden, also auch meines, vom Schein und seinem Dahinter. Und es kann ja sein, dass sich dieses Bewusste, man ist wer anderer und so etwas, ein Triumphgefühl erzeugt, eine Ode an sich. Der Mutterblick war ein Trichter, durch den mir eingeflößt worden war, sei mal Anlass zur Freude. Auf jeden Fall täuscht sich das Menschenkind gehörig, glaubt es, unabhängig zu sein von solchen Wünschen. Ich war furchtbar behütet, wenn nicht sogar eingesperrt, kein Wunder, dass sich Sätze in mein Skript gedrechselt haben, die ich nun hinausschreinern muss. Ich schmiergle an der Maserung.
Doch einst hatte ich ja eine Sandburg bewohnt. Das war ein prächtiger Bau. Ich suchte Steine, die ich in die Fassade drückte, um Bewunderer anzulocken. Steine mit spiegelndem Funkel. Ein Ast war der Stift und ich ritzte die Fenster und Tore in den Bau. Das Dach träufelte aus meiner Faust.
Später, als ich mich auf Reisen wagte, was für mich nichts Selbstverständliches ist, das Meer sah ich zum ersten Mal mit dreizehn, besuchte ich Höhlen und die Säulen aus Tropfstein und sie entsprachen der Form meines einstigen Daches. Gaudi hat seine Inspiration aus der Natur geholt, ich aus dem Material, das mir zur Verfügung gestanden war. Sand und Wasser. Blumen schmückten den Bau und sie hielten den Wettern stand. In meiner Phantasie war der Bau ein Hotel und ich sein Direktor. So wurde ich Souverän in eigener Person. Der Bau war bald verwittert und zerbröselt, war nicht auf, doch eben aus Sand gebaut, und das ist ja gut so. Es soll ja etwas Neues kommen. Bücher sind Ziegel. Selbst ein echtes Sandbuch gibt es, eine fließende Sprödigkeit, in die man einsteigen kann. Sie ergibt einen unangenehmen Aggregatzustand, wo nichts einen Sinn macht, was zwischen die Finger kommt, nur die Brille zerkratzt. Das Selbstportrait versteinert zu einer zerzausten Medusa, und es zerfällt, weil es nur reproduziert ist. Wie verhält sich meine Außenwirkung nach Innen?
Das menschliche Genom hat vier Buchstaben und man verläuft sich im Anagramm. Peter wirft ein rotes Wollknäuel zu, und wir werfen es weiter, um die Verstrickung unserer Geschicke zu zeigen. Er verwandelte uns in Affen, damit wir als zukünftige Lebensberater, das Leben von Anfang an besser verstehen.
Ich kroch nun mit etwa zwanzig Erwachsenen auf allen Vieren über den Boden des Schulungszentrums. Die frühmenschliche Erfahrung, vom WIR zum ICH zu kommen, sollten wir nachvollziehen. Dazu brauchen wir einander. Außer MIR war gleichbedeutend mit WIR. Wir schlossen die Augen. Riechen und Hören waren angesagt. Wir waren Primaten und uns war der sprachliche Ausdruck verboten. Die Selbsterfahrung verlangte zur Menschwerdung sich in den Affen zurück zu verwandeln, es gab keine Spielverderber. Wir aktivierten neurobiologisch verankerte Urerfahrung im Stamm und Kleinhirn mit Symbolen. Peter holte mit uns die Evolution nach.
Da begab ich mich also auf die Psycho-Schiene um den Gewerbeschein für eine therapeutische Praxis zu holen, wo Worte Klärung bringen müssen. Bitte grunzen!
Das Vokabular für Gefühle ist abstrakt, nur die Vernunft ist sprachmächtig. Bitte den Körper einsetzen. Der Boden ist Staub oder Schlamm und die Steppe ist Gras. Bitte wahrnehmen! Mit Händen und Füßen!
Die angehenden Lebensberater bildeten eine Gruppe. Sie bellten und knurrten, murrten, fauchten, und selbst das Schnurren war erlaubt. Rhythmus für Tänze und Musik gab der Herzschlag vor, auf den wir hören sollten. Das Feuer war noch nicht eingefangen, daher rotteten sich Lebensberater in Gruppen zusammen, um sich vor wilden Tieren und deren schweren Schritten, dass die Erde bebte, zu schützen. Der Urvater meiner Gruppe hatte nichts zu lachen, ehrlich gesagt, war er verloren. Er kapierte nicht, dass ich Hunger hatte, und er knurrte mich ratlos an. Der Urvater, einer der wenigen Männer aus unserem Seminar, war nur, weil er männlich war, zum Urvater gestempelt worden. Ich konnte auf seinen Grips nicht zählen und machte mich fort. Ich ging also selber auf Jagd. Währenddessen machte der Urvater mit den anderen Urmüttern Kinder. Die kleine Horde aus Lebensberatern setzte sich zum Ziel, zur Population der ganzen Savanne auszuwachsen. Mir war fad in der Gruppe. Ich spielte Wache und bastelte Geschenke. Es machte Spaß, Reaktion zu erhalten, und man erhielt sie, wenn man Geschenke machte. Es waren nur Blätter. Symbole der Uneigennützigkeit in der gruppendynamischen Evolution. Höhlenzeichnungen als Spur, geschenkte Nachricht an die Generation no future.
Am anderen Ende der Savanne hauste ein weiterer Klan aus Lebensberatern. Ihr Führer ist im Leben ein stattlicher Mann, der im Privaten auf Selbsterfahrung angewiesen ist, um zu seinen authentischen Bedürfnissen zu finden. Er kommt aus der Wirtschaft. Er springt herum und klopft sich auf die Brust. In Echt sieht er herausgeputzt aus und erinnert an das Gesicht einer Menschen aufhetzenden Selbstdisziplin.
Immer bauen sich Analysen zu Analogien und dann zu Vorurteilen um. Als hätten einander ähnelnde Gesichter dieselbe Geschichte und verdienten das gleiche Urteil. Ich gebe dem Affenmenschen eine Chance, denn ich bin misstrauisch mir selbst gegenüber. Ich also trommle mir auf die Brust und geh über die Wiese auf die neue andere Horde zu. Ich bin von Natur aus neugierig. Der vitale Wirtschafter spielt seine Rolle, er hat Frauen und sie wiegen Kinder. Die anderen Mitglieder rühren in einem Topf und dieser hängt über einer Feuerstelle. Es lodert und brodelt. Hier hat man das Feuer schon gefunden. Das interessiert mich.
Ich nehme ein Stück Holz und trag es über die Wiese. Ich winke damit. Es wird als Waffe gedeutet. Die Meute stürzt sich auf mich. Ich schenke den Stock der wildesten Frau und sie hat Grips. Sie kapiert, dass der Stock ein Geschenk ist, das Geschenk als Geschenk ist erkannt und sie freut sich. Sie murrt und schnurrt und streichelt gütig meine Schulter. Der Stock wird ihr von den Kolleginnen weggenommen und dann weint sie. Zum Geschenk gehört auch die Beschenkte, das bleibt sie nur, wenn sie das Geschenk behalten darf. Dadurch kapieren die andern, dass sie haben will, was ich ihr gegeben habe. Sie erkennen mich als einen Ur-Freund an, der was gebracht hat. Sie nehmen mich in ihren Kreis auf und führen mich zum Feuer, wo ich mit einer Rute herumstochere und eine Flamme entnehme. Ich habe vor, das Feuer in meine Sippe zu überbringen.
Geschrei und Gezeter toben plötzlich hinter mir. Meine Horde bricht den Frieden und will mich zurückholen. Sie kapieren nicht, dass ich freiwillig hier bin und ein Gast. Ich muss mich mit Händen und Füßen gegen die eigenen Sippenmitglieder wehren, ja sogar beißen, damit sie mich hier bei den Fremden lassen und diese nicht angreifen. Ich schaffe es, das Gemetzel zu verhindern, und richte die Neugier auf die wilde Frau. Sie hat Augen, dass ich Angst kriege. Ich sehe das Tier in ihr und weiß, ich hab es in mir. Wir Wilden sind verspielte Geschöpfe. Wir rauben einander die Babies und laufen davon. Das macht den Führer aufgebracht und er züchtigt uns und teilt die Strafe aus. Zur Verteidigung, die immer auf Aufklärung eines Missverständnisses beruht, bräuchte man Sprache. Wie entwickeln wir sie?
Ich nehme das Feuer, gehe weiter Richtung Osten, wo eine dritte Horde ihr Terrain hat. Der Mann ist sehr aggressiv, ein Bulle. Er mag mich schon die ganze Zeit nicht. Ich bin ihm zu theoretisch. Das war schon im Sesselkreis so. Ich weiß, dass er an seine Übermacht glaubt, er findet, dass Psychotiker sich nur ein bisschen anstrengen müssten, die Geister und Stimmen, die sie sehen und hören, als Dummheit zu erkennen. Die Beschimpfungen und Vernichtungen von Geistern und Stimmen kapiert er nicht. Er kapiert nicht, dass er von der Angst eines Kranken nichts kapiert. Dieser Lebensberater gehört ans Messer geliefert. Ich bekämpfe ihn anstatt Umwege zu gehen. Ich will den direkten Zugang. Nähere mich aufgerichtet mit dem Feuer in der Hand auf seinen Tellerrand-Horizont zu. Wedle mit der Fackel.
Ihm ging aber kein Licht auf. Hinter seinem Rücken herrschte eine vertikale Hierarchie. Nicht mein Geschmack, aber interessant. Er war der Boss und bis zum Knecht und der Knechtin seiner Frau war alles durchstrukturiert wie in einer Betriebswirtschaft. Und in unserem Spiel erschien die Möglichkeit für die Wirklichkeit die Unterdrücker abzuschaffen. Das Spiel war keine Utopie. Die älteste Frau entpuppte sich als gute Fee, die den Trottel zur Seite schob und mich in ihre Sippe mit dem Feuer aufnahm. Auch diese Gruppe hatte noch kein Feuer, aber bereits Zeichnungen von der Sonne. Noch keine Uhr, aber Strahlen mit einem Schattenzeiger. Ich wurde nun auch reich beschenkt: Ich war zutiefst beeindruckt über eine Kastanie. Genauer gesagt: Eine Kastanienschale mit Stacheln dran. Die Urfrauen hockten um mich und ich wurde gekämmt damit. Ich genoss es, nicht das Eitle sondern das Verfeinernde als Element in der Natur zu entdecken. Ich nahm das Feuer und den Kamm und wollte zu meiner Horde zurück. Die hatten mich inzwischen längst vergessen. Ich wurde davongejagt wie eine Fremde, doch dann waren die armen Teufel vom Feuer bestochen und von der Kastanienschale als Kamm. Aber sie mochten mich nicht mehr, sie nahmen, was ich mitgebracht hatte, aber sie zeigten mir bis ans Ende des Spiels die kalte Schulter.
Dadurch wurde ein altes Gefühl wach. Es hat was mit Sippe zu tun, gegen die man sich gar nicht gestellt hat, sondern etwas Neues entdeckte. Dieses Gefühl ausgestoßen zu sein, ist grau, diffus und kocht. Dieses Gefühl ist ein Gebräu aus Wut und Trauer wegen der kalten Schulter. Sie bestürzt mich mit Lähmung durch Niedergeschlagenheit. Ich begreife, dass mein Dilemma aus Sprachlosigkeit bestehen bleibt. Ich stoße am Feuer meine Klage aus. Die Unmöglichkeit eines Dialogs führt aber zum Klang und damit Gehör zum Gehör. Ich kämpfe auf diese Weise um Worte und um die Liebe meiner Horde mit Geschenken und Lauten. Seltsam, dass dieses Gebräu sich dann verflüssigt, und später, viel später, wir sind noch gar nicht zur Eiszeit gekommen, in die Buchkultur überführen wird.
Unser Peter sitzt wieder in der Mitte. Er sammelt unser neues Wissen und unsere Erkenntnisse ein. Wir sitzen im Sesselkreis-Saal. Es gibt wirklich Grund zur Klage. Die Lebensberater sind mit dem Ausbildner unzufrieden. Wir sind nicht hier, um Orang-Utan zu spielen. Peter nickt bedächtig. Er verdient auch durch unsre Kritik an seiner Person. Die Lebensträume von der Lebensberatung stecken quasi im Urschleim. Ein Häufchen Elend ist unser Peter. Was hält ihn denn am Leben? Manche von uns geraten in Ur-wut und Ur-trauer und wollen das Geld zurück. Die Geister und Dämonen sind giftiger Dampf. Bitte Ausspucken. Bitte immer wieder ausspucken und die Masse erkalten lassen. Wut ist Kraft, sagt Peter. Man muss sie rauslassen. Er ist deutlich ambivalent. Natur ist nicht Freiheit. Der Verstand ist nicht Vernunft. Spreng den Käfig depravierter Kaltherzigkeit, sagt er und wird persönlich, immerhin bist du an der Arbeit durchs Wort. Nicht jeder Affe muss es gleich werden.