MITGLIEDER

Text von:
Daniela Meisel

Auszug aus „Wovon Schwalben träumen“

Großmutter war die freieste Frau der Familie. Lachte sie, sprühten die Fältchen. In ihre Haut gebrannt die Hitze der Sommer. Gerade mal Frühling, streunt sie als Mädchen barfuß durch Felder und Wald: Goldgelber Raps, im Laufen wischt er Blütenstaub auf die Wangen. Geschnittener Weizen, die Halme spitz an den Sohlen. Am Wegrand Strohballen, duftend, zum Darüberkugeln.
Freda lässt sich ins Gras plumpsen und Heuschrecken streuen wie winzige Einschlagtrümmer. Unter den kurzen Nägeln brennt der Dreck und sie leckt die wunden Stellen, beobachtet Weberknechte über die Schenkel staksen und kichert, wenn Käfer von ihren Knien in den Sonnenuntergang steigen – die fülligen Hinterteile zeigen zum Dorf.
Im Winter trägt Freda Schuhe, doch kaum aus den Augen der Mutter, bocken ihre Zehen wie die Ziegen im Verschlag der Gastwirtschaft, und sie schmeißt die lästigen Treter in die Höhlung des Baumstamms, in dem die Marder nisten, bis Franz sie im Sommer 1930 mit der Rechtfertigung vertreibt, sie seien: »Elendigliche Hühnerdiebe, dreckiges Lumpenpack!«
Von Fredas Bitten, auf die gelben Brustflecke der Tiere zu achten, die sie als Edelmarder und menschenscheu kennzeichnen, lässt er sich nicht beirren. Nie vergisst sie die geweiteten Pupillen, zwei Löcher in den türkisgrünen Augen, die andere in der Gastwirtschaft »klar wie Bergseen« nennen – dahinter ein geistloses Flackern.
Jahre später soll Freda es wiedersehen. Franz ist unter den Ersten, deren gestreckter Arm wie vom Hirn entkoppelt in die Höhe saust. Sein Finger zeigt in eine Richtung und aus dem schönen Mund brechen Beschimpfungen, die Freda an das rotverkrustete Fell der Pelztiere erinnern.
»Das ist euer Platz«, wispert sie in die Höhlung, hebt den Kopf, und der Wind stäubt ihr Schneekristalle ins Gesicht, dass es prickelt. Mit den nackten Füßen stößt sie sich von den Wurzeln ab, tänzelt über den Harsch und er birst in scharfkantige Platten. Sie balanciert am Ufer des Teichs, springt breitbeinig aufs Eis und lauscht – zwei Hälften brechen mit einem Laut der Erleichterung – in der Fläche eine krakelige Linie: ihre eigene Handschrift!
Beim Baumstumpf schlüpft Freda in die Schuhe und rennt bis das Blut zurück in die Bahnen wirbelt, ein Kribbeln wie beim Verdrehen der Unterarme – die Burschen nennen es Brennnessel. Das Kribbeln verebbt, Hitze schießt in den Körper und als Freda unter einem Ast mit Schneegupf durchläuft, schleudert sie die Hände dagegen, der Schnee rutscht zum Kragen hinein und schmilzt auf der Haut.
In Dorfnähe fährt der Wind in Fredas Lungen, verbläst am Himmel die Wolken, bis dieser blau über den Feldern thront. Die Umrisse der Bäume werden deutlich und von den Zweigen hängen immer längere Eiszapfen in immer dichterem Abstand. Freda stoppt und betrachtet das seltene Schauspiel. Eine Reihe Schwerter funkelt im Sonnenlicht Richtung Erde – in einer seltsamen Warteposition.
»Bist du nicht g’scheit, hier zu laufen?«, ruft jemand, und Fredas Kopf fliegt herum.
»Schau, die Last wird zu groß!«, meint der Uniformierte, dem sie im Dorf nie begegnet ist, milder, und zeigt auf den Ast einer Föhre, den das Gewicht krümmt.
»Jetzt husch nach Hause!«, stellt er das Schild mit der Aufschrift »Halt!« auf den Boden und klatscht in die Hände. Freda betrachtet die Stiefel – straff geschnürt, poliertes Leder – in der Brust wird es eng und sie läuft zur Gastwirtschaft am Rand des Dorfes.
Daheim steht die Mutter hinter der Tür, zartlila Kostüm, der Lippenstift eine Nuance dunkler. Sie starrt auf die Tochter, während Freda die in Pfützen schwimmenden Wildlederschuhe mustert – ihre Locken zu drahtigen Spiralen gefroren.
»Deine Haare! Wo bist du gewesen?«, schimpft die Mutter und befiehlt: »Raus aus den Schuhen!«
Freda bewegt die warmen Zehen, fühlt sich sicher und schlüpft ins Freie. Die Füße kribbeln und sie bemerkt mit Genugtuung, die Haut ist rosa und das Aderngeflecht kaum zu sehen.
Die Mutter begutachtet mit geübtem Blick, umkreist die Tochter, entdeckt die feinen Schnitte des Harschbruchs an den Knöcheln und klatscht ihr die Hand ins Gesicht, bemüht sich aber, die Nase nicht zu treffen, denn in ihrer Vorstellung gibt es nichts Schlimmeres als ein verunstaltetes Mädchen. Freda fühlt ein Flackern und betrachtet die Pfützen um die Wildlederschuhe.
»Und, hast du den Vater wieder angebettelt?«, fragt sie und die Hand rauscht ein zweites Mal an ihre Wange – diesmal mit Wucht.

Auszug aus „Wovon Schwalben träumen“ (Roman - Picus, 2018)