MITGLIEDER

Text von:
Verena Gotthardt

augen weinen braune felder

ich kann drei weiße stühle vor mir stehen sehen. ich setze mich nicht auf sie. ich sitze vor den plastikstühlen. ich bin die erste reihe und ich warte. der vorhang steht immer noch offen. hinter ihm ein großes loch. ich rufe hinein. diesmal kein echo. meine stimme prallt am ende des loches ab und bleibt am boden liegen. ich jetzt: stehe widerwillig auf und sammle meine stimme auf. ich fühle mich alt. mir tut mein kreuz beim bücken weh. meine rippen sind nicht da. sie tun mir nicht weh. ich setze mich wieder. ich schaue von links nach rechts und von oben nach unten. der vorhang hat keine farben. dann: er schließt sich von selbst. ich sitze am boden vor dem geschlossenen vorhang und fange an die momente zu zählen. ich habe vergessen, dass ich nicht mehr zählen kann. ich bewege trotzdem meine finger wirr aber entschlossen vor meinem gesicht. ich wiederhole: ich bin glaubwürdig. ich sitze da, im kaiserschnitt und biege zuerst meinen daumen um. eins. dann den zeigefinger, zwei. dann der mittelfinger, drei. ich zähle ohne zu zählen für eine ganze weile. irgendwann geht der vorhang wieder auf. ich schaue in einen raum. da ist eine ecke und am boden liegt gebündelter rosmarin. ich kann ihn theoretisch riechen. aber es riecht nicht. an manchen tagen riecht der rosmarin nach nichts, denke ich. vor der ecke in der mitte des raumes steht ein tisch. ich sehe eine tasse. da ist etwas heißes drin. es qualmt leicht. da ist jemand. da war jemand. wenn es aus einer tasse qualmt, kommt bestimmt jemand wieder. ich starre und ich warte. hinter mir immer noch drei weiße stühle. und obwohl ich alleine bin, gibt es keinen platz mehr. alles voll und ausverkauft. kommen sie morgen wieder. nach einer weile habe ich das bedürfnis auf eine uhr zu schauen. ich habe keine. da ist wieder ein gefühl. die zeit fehlt mir. das qualmen wird immer schwächer. da kommt immer weniger jemand. ich lasse mich zurückfallen. ich habe drei weiße stühle hinter mir, die mich auffangen. ich hänge.

 

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meine augen starren in die ecke. der rosmarin liegt reglos am boden. meine augen öffnen sich noch mehr. wenn meine augen riechen könnten. ich denke: da ist ein ewiges warten, weil wenn man rosmarin in eine ecke stellt, kommt man nicht mehr wieder.

 

(Auszug aus dem Buch "herausgehen", Text:  "augen weinen braune felder")