MITGLIEDER

Text von:
Sylvia Dürr

Der dritte Arm

„Erinnerst du dich an die Zeit, als dein Arm gebrochen war? Der Rechte eingegipst nach der aufwändigen OP.“

Ich nicke und befühle meinen Arm. Vor drei Jahren dumm gestürzt.  Die Schulter ist immer noch eingeschränkt beweglich trotz Operation, Reha und Physiotherapien.

„Du hast dir damals einen dritten Arm gewünscht. Er sollte an der Wirbelsäule auf Schulterhöhe  heraus wachsen. Dieses Ding als Behelfsobjekt sozusagen. Du hattest schon immer eine bemerkenswerte Fantasie! Und dann kamst du richtig in Fahrt. Auch ein drittes Bein wäre nicht zu verachten. Mit zunehmendem Alter und dementsprechender Degeneration der Knochen, Osteoporose, Arthrosen etc, wäre so ein zusätzliches Körperglied sehr nützlich. Dann meintest du gespielt traurig, dass dies wohl ein Wunschtraum bleiben würde, solange man nicht einmal ein Auge, ein Ohr, eine Nase, einen Arm und sonstige Extremitäten ersetzen könne. Und immer wieder deine ungeduldige Frage: Warum eigentlich nicht? Mittlerweile ist es möglich, aus einer Zelle eine neue im Labor herzustellen. Aus der Hautzelle wird eine Leberzelle. Aus den Nabelschnurzellen kann man jede x- beliebige Zelle herstellen. Alles machbar. Man müsste aber das alles so umstrukturieren können, dass jedes Teil ersetzbar wäre. Leider ist das noch ein ziemlich ungeklärtes Rätsel. Teile des Körpers, zum Beispiel die Haut, erneuern sich ja in paar Tagen selbst. Aber der Einäugige bleibt immer noch einäugig.“

Mein Freund, seines Zeichens Naturwissenschaftler, Genetiker und Biologe, macht eine kurze Pause. Bin gespannt, auf was er hinaus will. Wir sitzen in unserer Stammkneipe, und er bestellt den dritten Wein. Einmal im Monat treffen wir uns. Eine nette Gewohnheit. Wir sind schon seit dem Studium befreundet,  aber verschiedene Wege gegangen, bis sie sich vor paar Jahren erneut gekreuzt haben. Wir unterhalten eine lose Beziehung. Wir diskutieren wie in früheren Zeiten über Gott und die Welt, trinken etlichen Alkohol und landen meist spätabends im Bett. Das ist für mich jedes Mal wie ein Jungbrunnen, da ich mich schon weit in der zweiten Lebenshälfte befinde. So wie es ist, ist es gut. Keiner von uns will mehr, obgleich mein Freund verwitwet ist und meine Silberne weit zurück liegt. Ich habe keine Gewissensbisse und genieße den Augenblick.

Ich schaue auf die Uhr und bin schon reif, mit ihm nach Hause zu gehen. Er aber redet, seine Augen leuchten, und diesmal bin nicht ich, sondern er auf dem Weg nach Münchhausen. Ich lächle und höre seinen verrückten Thesen mit Interesse zu.

„Du hast doch sicher mitbekommen, dass man eine Genschere namens Crispr gefunden hat, um schädliche oder sonstige unerwünschte Gene zu entfernen oder heraus zu schnippeln.  Stammzellengene von Salamandern zum Beispiel, bei denen wirklich alles nachwächst, wie du weißt, müsste man ins menschliche Genom einfügen, um die Regeneration von Gliedmaßen ermöglichen zu können. Das wäre der Clou! Der Salamander machts uns vor. Ein schlaues Kerlchen. Nur leider verliert er ab und zu seinen Schwanz, was ja beim männlichen Menschen natürlich unbedingt zu verhindern ist.“ Wir grinsen beide und nehmen einen großen Schluck vom schweren Rotwein.

 „Eine geniale Methode, Körperteile zu ersetzen, die fehlen. Leider ist hier vieles  verboten, was den Menschen anbetrifft.“ Er seufzt und fährt zornig fort: „ Aber ein Schaf klonen war möglich. Dolly. Allerdings bin ich  an der Replikation eines ganzen Menschen nicht interessiert. Um was es mir geht, sind Körperteile und Gliedmaßen, die man zusätzlich einsetzen könnte. Wie zum Beispiel den dritten Arm oder das dritte Bein,- um wieder auf deine tolle Idee zurückzukommen…“ Er schließt kurz die Augen.

„ Das müsste dann schnell wachsen. In einigen Monaten quasi..“

„Und wie willst du mit einem zusätzlichen Bein liegen? Das wäre auf dem Rücken nicht mehr möglich. Auch ein Arm wäre hinderlich. Der müsste sich dann um die Schulter legen, als Stola sozusagen. Abgesehen davon, dass sowas höchst gruselig ausschauen würde. Ein Menschenkäfer mit drei Armen und Beinen.“

Ich lache laut bei der Vorstellung. Wie in einem Horror Movie.

Er wiegelt mit seiner Hand ab: „Liegen geht immer. Und zuviel sitzen soll der Mensch sowieso nicht. Das ist alles Neuzeit Verseuchung. Nun gut, lassen wir das dritte Bein noch aus dem Spiel. Aber der dritte Arm ist und bleibt spannend, und vor allem praktisch. Stell dir vor, ich streichle dich mit drei Händen..“

Er grinst wieder und leert sein drittes Glas.

„Komm, lass uns gehen.“ Langsam werde ich müde, zumal er sich in seine Fantasie  hinein gesteigert hat und auch noch denkt, er könne mir meine Spinnerei mit seinem Humbug wissenschaftlich beweisen. Aber nun ist Schluss. Es war sehr amüsant, meine Idee aufzugreifen und ausführlich darzustellen. Im Grunde auch alles schlüssig, aber wie Frankenstein auszusehen, geht mir dann doch zu weit. Ich zahle, wir nehmen ein Taxi und betreten nach kurzer Zeit seine Wohnung. Er umschließt mich mit seinen immer noch kräftigen Armen und wir fallen ins Bett. Ich mag es, bei ihm zu liegen, seine Zärtlichkeit bei Dunkelheit.

Es ist Nacht. Ich knipse das Licht an, um mir eine Wasserflasche zu holen. Mein Mund, eine ausgetrocknete Höhle. Ich vertrage auch nicht mehr so viel wie früher. Leider, denke ich. Verdammtes Altern.

Ich steige wieder leise ins Bett. Er liegt auf der Seite, mir abgewandt. Und dort, zwischen seinen Schulterblättern winkt mir ein winziges Händchen zu.