MITGLIEDER

Text von:
Paul Auer

Wilder Vogel (Ausschnitt)

Nun also liege ich hier, durchaus bequem, höre den Nachtklang der Frühlings­vögel, sehe den recht­ecki­gen Ausschnitt des mond­beschie­ne­nen schwarzblauen Himmels über mir, in den sich die Äste und Zweige meines Baumes fast unmerklich ein­schieben. Sie sind noch kahl, wie man sagt, aber die Knospen sprießen bereits. In wenigen Tagen, so die Witterung milde bleibt und kein böser Frost einsetzt, wird die Blüte beginnen. Blüte. Ich bin gewiss nicht der Erste, dem die phonetische Nähe dieses Wortes zu ‚bluten‘ auffällt, nahe­geht, Nacht für Nacht. Tatsächlich wird, wie stets im Leben, dem Blühen das Bluten folgen, wenn im Spät­sommer an meinem Bäumchen die Kirschen hängen werden. Wilde Vogel­kirschen.
Der weise Mann am Markt hatte recht, dies ist der richtige Baum für mich, für uns. Ich sehe ihn vor mir auf einer Obst­kiste stehen, höre seine schneidende Stimme tief­schürfende Plattitüden in die Zuhörer­schaft schmettern, in welche ich mich auf der Suche nach Zu­taten für mein Nachtmahl ein­gefügt habe; ich war neu­gierig, wessen die Menschen­traube so gebannt lauschte, mit welchen Worten der Mann auf der Obst­kiste lockte und schlussendlich zumindest mich bis in diese Grube hier brachte, bringen würde. Wir sind mit nichts auf diese Welt gekommen, mit nichts werden wir sie wieder verlassen. Das waren seine ersten Worte. Ich ver­rate Ihnen sogleich: Es werden auch seine letzten sein.
Plattitüden, ja, wie auch das Folgende: Die Kleider, die wir zwischen Geburt und Tod tragen, die Arbeit, die wir verrichten, die Gedanken, die wir für wichtig halten, die Ziele, die wir zu erreichen suchen, die Enttäuschungen, denen wir uns aus­liefern, sie alle sind angesichts der Dauer und Größe des Universums nicht einmal diese Worte wert … Das weiß im Grunde jeder, das zu beweisen oder zu wider­legen bemühen sich Philo­sophen seit Anbeginn der Zeit. Bloß nützt es nichts. Der Mensch bleibt lebendig und nimmt sein Leben wichtig, doch das Gegen­teil würde ihn nolens volens umbringen, es wäre ihm unerträg­lich, alleine die Vorstellung, dass dieses illusorische Konstrukt einer Identität aus Herkunft, Name, Vor­lieben, Zielen, Merk­malen, Eigen­heiten, Abneigungen, dass dieses schein­bare Individuum nichts als ein von chemischen Impulsen durchzuckter Zell­haufen sei, ist den meisten Menschen nach wie vor eine unerhörte Kränkung, die ihnen den Boden unter den Füßen weg­zu­ziehen imstande ist, ja mehr noch, die sie in das sprichwörtliche schwarze Loch stürzt, zu­weilen eine buchstäbliche Grube; woraus sie erst recht wieder bloß mit Hilfs­mitteln der Lüge, mit Medikamenten, Therapien und neuen Glaubens­sätzen befreit werden können. Indes ist jedem, sobald er sich einmal in jenem schwarzen Loch befunden hat, einsichtig, dass es solch Befreiung nicht geben kann, spätestens wenn er sich in die vermeintlich liebe­vollen, erlösenden Hände fernöstlicher Lehren begeben hat und nach anfänglicher Euphorie und der phantastischen Gewissheit, endlich einen Modus Vivendi mit den Zu­mutun­gen der Eitel- und Übelkeit gefunden zu haben, zu der furcht­baren Einsicht gelangt, dass selbst dieses einleuchtend scheinende Glücks­verspre­chen lediglich eine Methode ist, die Zeit tot­zu­schlagen und auf eine wieder­erstan­dene bessere Zeit zu hoffen, ohne sie zu erwarten, insofern der perfideste Selbst­betrug unter allen.
Erwarten sollte der Mensch ohnedies nichts, und dass er dies weiß und dennoch ihm die Erwartung nach all den grauen­haften Jahr­tausen­den blutigen Fehl­verhal­tens nicht aus­getrie­ben worden ist, dass er immer noch, ob als Gattung oder Monade, auf ein Paradies hofft, temporär oder ewig, ja alleine diese kognitive Dis­sonanz des Menschen, dass er eben erwartet und zugleich weiß, dass sich bislang noch keine einzige Erwartung gerecht­fertigt hat, und wenn doch, so lediglich unter der Zu­hilfe­nahme wiederum von neuen tröstenden Erwartungen – ein Knäuel an Wider­sprüch­lich­keiten, zudem nur mittels Ironie hand­zu­haben. Denn bekanntlich hat jener Mensch in kindischen Zeiten wie diesen verloren, der seine eigenen oder die Bedürfnisse seiner Mit­menschen ernst nimmt (dass der Mensch sich wichtig nimmt, bedeutet nämlich leider keiner­lei Ernst­haftig­keit) – denn etwas ernst zu nehmen heißt in erster Linie, sich der möglichen Blöße enttäuschter Erwartungen hin­zu­geben, was sich nach all den Jahr­tausen­den grau­samer Blut­rünstig­keit und peinlicher Pathetik kein halbwegs auf- und abgeklärter Mensch erlauben kann, wes­wegen nicht nur Gott tot ist, sondern auch alle, die ihn getötet haben, aber eben auch alle, die ihn wieder­zu­beleben versuchen. [...]