MITGLIEDER

Text von:
Peter Assmann

Der letzte Text

Mein letzter Text muss wohl eine Vorschau sein, müsste es für mich und für ein noch mögliches Wiir unbedingt geworden sein. Solches auf Gemeinschaft ausgerichtetes Vorschauen ruft allerdings dann später durchwegs nur Erstauen hervor, weil alles immer irgendwie anders oder nur so ähnlich wie ausgemalt weitergegangen ist und weiter lebendig bleibt. Aber: Wir wollen/müssen/dürfen/sollen stets auf den Fortschritt hoffen. „Es geht vorwärts, aufwärts mit der Menschheit; alles wird besser, das Leben schöner, leichter, länger. Das, was die Menschheit im Jahre 1910 quält, wird 100 Jahre später kaum noch eine oder gar keine Rolle mehr spielen.“ – soweit zitiert aus dem Vorwort zum Buch „Die Welt in 100 Jahren“, erschienen in Berlin 1910.
In diesem Buch hat uns Hermann Bahr für die Jetztzeit eine ganz andere Literatur vorhergesagt, eine weniger kommerzorientierte, eine vom Erwerbslebenzwang unabhängige. „Das Kennzeichen der Literatur in hundert Jahren wird es sein, daß es keine Literaten mehr geben wird, nämlich keinen besonderen Stand, der das Privileg hat, für die anderen das Wort zu besorgen, wie der Bäcker das Brot und der Metzger das Fleisch.“
Interessant, was der aus Linz stammende Literat und Literaturkritiker den heute Schreibenden und Lesenden prophezeit hat, wenn er als Ausblick festschreibt, dass durch den zu erwartenden allgemeinen Wohlstand die Literaturproduktion zurückgehen werde, da ein Motiv für die Entstehung von Literatur, der Broterwerb nämlich, wegfallen werde, denn das Einkommen werde ohne Arbeit gesichert sein. „ … fraglich, ob nicht alle Literatur überhaupt stillstehen und vielleicht für einige hundert Jahre sistiert sein wird, solange nämlich, bis es etwa geschehen mag, daß einmal aus einem anderen, heute durchaus unbekannten Motiv das Wort nimmt, also z.B. vielleicht, weil er etwas zu sagen hat, oder auch einfach deshalb, weil er, geheimnisvoll getrieben, eben muß.“
Aus dem gleichen Buch stammt auch die folgende Aussage zur Welt von morgen: „Ein Krieg zum Beispiel wird nicht mehr in den Bereich der Möglichkeiten gehören. Wenn auch die Menschheit an sich nicht so weit sein wird, alle Kriege und jedwedes Blutvergießen für ihrer unwürdig zu halten, so wird doch die Wissenschaft soweit sein, sie zu dieser Weltanschauung zu zwingen und zu bekehren. Der Krieg ist nämlich nur solange möglich, bis unsere Mittel dazu nicht ausreichende sind. Das heißt, so lange uns keine Waffe zu Gebote steht, gegen die es keine Gegenwehr gibt und deren alles zerstörender Wirkung wir verteidigungslos ausgesetzt sind.“ Ähnlich schreibt auch von Bertha von Suttner vier Jahre vor dem ersten Weltkrieg in diesem Buch: “Wir sind im Besitze von so gewaltigen Vernichtungskräften, dass jeder von zwei Gegnern geführte Kampf nur Doppelselbstmord wäre. Wenn man mit einem Druck auf einen Knopf, auf jede beliebige Distanz hin, jede beliebige Menschen- oder Häusermasse pulverisieren kann, so weiß ich nicht, nach welchen taktischen und strategischen Regeln man mit solchen Mitteln noch ein Völkerduell austragen könnte.“ – wir können, bis heute, das ganz gut.  
Zum Kampf der Geschlechter wurde folgendes wenige Jahre zuvor prophetisch festgehalten.“ Je mehr die Frau auf das Tätigkeitgebiet des Mannes übergreift, je vielseitiger sie sich im öffentlichen Leben betätigt (…), desto rascher wird die Frau dem Manne nachkommen und aus gleichen Gründen auch stärkeren Bartwuchs zeigen. Heute sollen schon 10 % der Frauen stärkeren Bartwuchs zeigen; dieser Prozentsatz wird sich konsequent steigern und in freilich noch sehr ferner Zukunft wird der Bart nicht mehr das Attribut des Mannes seines.“ (Zitat aus der Zeitschrift „Das neue Jahrhundert“ aus dem Jahr 1900)
10 Jahre später klingt die Vorschau so:
„Der männliche und der weibliche Typus sind in so hohem Grade verschmolzen, daß der Blick nur durch gewisse, aus Zweckmäßigkeitsgründen noch beibehaltene Verschiedenheiten in der Kleidung die Geschlechter unterscheiden kann.“

Die Welt von morgen ist immer ein Blick auf die Welt von heute, auf meine/unsere aktuellen Aufmerksamkeiten und die damit verbundenen Fantasien und Entwicklungsschwerpunkte.
Jede Vorschau ist jetzt und daher wird es morgen ein anderes solches geben, mit einem anderen letzten Text; meiner findet derzeit sein prospektives Ende am Friedhof, wohl einem Urnenhain, aus heutiger Sicht.
Oder doch:

 

Es ist nicht nur mein Leben ...

Im Kreiskreuz geschaffene,
vorbildlich, grüngelebt,
dann im Blauwasser weiter
Rotost
Gelbnord
Schwarzwest
Weisssüd, neunmal … zumindest


(aus "Landstrich 2020")