MITGLIEDER
Text von:Silvana Steinbacher
PINGUINE IN GRIECHENLAND
Unförmige Wesen bewegen sich auf ihn zu.
Ihre übermüdeten Gesichter ähneln sich erstaunlich: Bleiche, meist unreine Haut, ausdruckslose Augen, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen. Ihre Haare wirken strähnig. Erst jetzt bemerkt er ihre Kleidung, fast alle Figuren, die ihm vom Gehsteig entgegenwalzen, tragen ungepflegte Polyester-Trainingsanzüge, meist schwarz oder dunkelblau. Noch mehr als ihre Erscheinung stößt ihn die Dumpfheit ihres Blickes ab.
Die Einkaufstempel links und rechts der Straße werben mit sensationellen Preisknüllern. Vollbepackt und in beunruhigendem Gleichschritt verlassen die überdimensional großen Konsumenten die Erlebniszentren. Er betrachtet diese Passanten etwas eingehender. Strikte Gesetzmäßigkeiten, von deren Kenntnis er ausgeschlossen bleibt, scheinen sie aneinanderzuketten.
Treffen sie auf bekannte Personen, verlangsamt sich ihr Schritt, in deutlichem Abstand zueinander bleiben sie schließlich stehen und kommunizieren per Handy miteinander. Bei flüchtigeren Bekanntschaften genügt ein gut wahrnehmbares Heben einer Augenbraue. Als besonderes Zeichen der Wertschätzung und Sympathie hat man sich auf ein Kreisen der rechten Hand geeinigt.
Boris verscheucht einige Insekten, die hartnäckig seine Schilderung begleiten und die honigintensive Nachspeise umkreisen. Es ist ein angenehm lauer Abend auf einer griechischen Insel in einer überteuerten Taverne. Boris fühlt sich im Einklang mit der Welt, wie er es gern formuliert. Etwas belustigt betrachtet er Frau Konrad zu seiner rechten Seite, die ihren Blick in seine Augen bohrt und die ihn jetzt bittet, ihr näher zu erklären, worauf er denn mit dieser seltsamen Erzählung zusteuere. Der zweite Mann am Tisch kennt diese Geschichte seines Freundes und dessen nicht nachvollziehbaren unbekümmerten Zugang zu seinen Erscheinungen bereits. Mit einer verhalten genervten Geste checkt er daher ungeniert seine Mails und hofft, dass sich dieser so verheißungsvoll begonnene Abend noch entwickeln wird. Er verspürt einen kaum zu bändigenden Bewegungsdrang, wartet einen günstigen Moment ab, um ohne Aufsehen einen kurzen Spaziergang einschieben zu können.
„Bleib nicht zu lange, Harald“, fordert ihn Boris auf, der die Gewohnheiten seines Freundes bereits kennt. Die Frau sieht Boris nach wie vor erwartungsvoll an. Boris erzählt ihr, überraschend sachlich, dass sich seine Gedanken manchmal selbstständig machen. Er war vor einigen Monaten im Zentrum jener Stadt, in der Harald und er wohnen, auf dem Weg zu einem Zahnarzttermin und wurde ohne jede Vorankündigung von dieser Szene überrascht. Es war ein eigenartiger Zustand: Er kann in diesen Situationen die Realität vollkommen einschätzen, dennoch schieben sich diese Gratis-DVDs, wie er sie nennt, wie eine Folie über seine Eindrücke und sind in diesen Momenten für ihn ebenso gegenwärtig.
Pinguine in Griechenland, Verlag: Bibliothek der Provinz, 2017