MITGLIEDER

Text von:
Eva Woska-Nimmervoll

Tante Mitzi

Tante Mitzi hatte immer einen Hut auf.
Das beweisen im Familienalbum die Fotos. Wir schauen durch sie wie durch kleine Fenster in die Vergangenheit: Tante Mitzi mit Hut auf den alten schwarz-weißen Fotos, wo meine Mama als kleines Mädchen drauf ist. Auf den auch schon vergilbten in Farbe, auf denen meine Schwester und ich noch klein waren. Und auch auf dem von meiner Firmung. Meistens trug sie dazu eine Handtasche, die sich auch dann aus irgendeinem Winkel ins Bild drängte, wenn Tante Mitzi und ihr Hut selbst gar nicht zu sehen waren. Es scheint, als wäre Tante Mitzi überall dabei gewesen.

Mama erinnert sich:
Als Hitler einmarschierte, war Tante Mitzi am Heldenplatz.
Als Österreich frei wurde, war Tante Mitzi vor dem Schloss Belvedere.

Tante Mitzi war ein Phänomen. Sie veränderte sich nicht ein bisschen in all den Jahrzehnten.
Jeder hat in seiner Familie eine Tante Mitzi.

Tante Mitzi war eifersüchtig. Auf fast alles und jeden. Aber besonders, wenn jemand, den sie liebte, jemand anderen außer ihr auch liebte. Mit ihrer Schwester, meiner Großmutter, wechselte sie nach einem Streit zwei Jahre lang kein Wort. Gab es jemals einen Mann an der Seite von Tante Mitzi? Meine Mutter meint, ja, aber es blieb ihr keiner. Viele Mitzi-Tanten gehen ohne Mann durchs Leben.

Tante Mitzi war früher Briefträgerin und ganz flott mit einem Dienstfahrrad unterwegs, wie ein Foto zeigt. Was sie verdiente, reichte. Für sie und Maxi, ihren jeweiligen grünen Wellensittich. Starb ein Maxi, kaufte sie bald darauf einen neuen. Selten hatte ein Maxi eine Partnerin. Wenn, dann war sie blau und hieß Susi. Nur die susilosen Maxis lernten sprechen und schlugen Purzelbäume auf der Vorhangstange.
Ihre ebenerdige Substandard-Wohnung, von der es kein Foto gibt, hatte kein Badezimmer, aber eine eigene Toilette, es roch nach Kanal. Warum Tante Mitzi immer einen Kübel mit gebrauchtem Aufwaschwasser dort stehen ließ, bleibt ein Rätsel. Sie hatte nur ein Waschbecken in der Küche, nicht einmal eine Dusche. Kein Wunder, dass Tante Mitzi brunzelte. Manchmal vor Familienfeiern badete sie bei uns, dann duftete sie frisch nach Mamas Shampoo, ihre silberweißen Haare glänzten und ihre Wangen waren rot.
Oft ging Tante Mitzi kurz vor Ladenschluss zum Fleischhauer am Eck und kaufte um ganz wenig Geld die übrig gebliebenen Wurstenden.  Mit fettigen Fingern schälte sie die Wurstreste aus der Haut: Salami, Pariser, Pikante, Polnische. Einmal lud sie uns zum Wurstenden-Essen ein. Letztlich doch ein bisschen eine Enttäuschung für meinen Onkel, der „Entenessen“ verstanden hatte.

Tante Mitzi verdächtigte ihre Nachbarin des Diebstahls. Sie behauptete, die Frau habe ihr die Bestecklade samt Besteck gestohlen und einen Schuh. Und immer wieder andere Alltagsdinge, die fehlten. Mama sagte, Tante Mitzi bilde sich das ein, natürlich habe die Nachbarin keinerlei Interesse an der alten Bestecklade oder einem einzelnen Hausschlapfen. Ich wusste nicht, wem ich glauben sollte, ich war noch ein Kind.
Jeden Frühsommer kamen die Ameisen zu Tante Mitzi in die Wohnung.

Solange ich sie kannte, war Tante Mitzi Pensionistin. Alles, was sie für das tägliche Leben brauchte, fand sie in Gehnähe: Nicht nur den Fleischhauer, auch Bäckerei, Lotterie, Milchfrau, die Kaffeehäuser und Heurigen. Fallweise sah ich sie von weitem in der Fußgängerzone, wie sie sich über einen Mistkübel beugte und darin wühlte. Ich ging dann ganz schnell weiter und hoffte, dass sie mich nicht sah.
Tante Mitzi nannte uns Kinder „Herzipinki“. Sie brachte uns die harten, von der Sonne ausgebleichten Kaugummis aus den Automaten mit. Ich freute mich darüber. Immer wieder schenkte sie uns halb kaputtes Spielzeug oder andere Sachen, von denen sie behauptete, sie hätte sie „gefunden“. Meine Mutter warf die Dinge mit spitzen Fingern weg, sobald Tante Mitzi gegangen war. Wir mochten Tante Mitzi, aber als Babysitterin war sie nur dritte Wahl. Zuerst kamen die beiden Omas.

Es war einfach, aber gemütlich bei Tante Mitzi und man konnte mit Maxi spielen. Wenn ich bei ihr oder für sie etwas bastelte, stellte sie es auf den Kasten und es wurde nicht weggeräumt oder gar weggeworfen.1978 durfte ich sogar die Sammelpickerl von der Fußball-WM rund um Tante Mitzis Waschbecken kleben. Als sie 1987 starb, lachten Krankl und Rumenigge noch immer von den dunkelgrünen Fliesen.

Die Lotto-Annahmestelle war eines jener alten engen Geschäftslokale, in die man über ein paar Stiegen hinunter gehen musste. Der Laden war nicht viel größer als Tante Mitzis Toilette und sie frequentierte ihn nahezu ebenso oft. Als auch Brieflose zum Rubbeln angeboten wurden, konnte Tante Mitzi nicht widerstehen. Weil für gewöhnlich in den Losen „Leider nicht gewonnen“ stand, nannte Tante Mitzi die Brieflose selbst scherzhalber „Leider Nicht.“ Sie kaufte sie trotzdem immer wieder. „Gestern waren im ‚Leider-Nicht’ 20 Schilling drin“, bekannte sie dann und wann. Manchmal hatte sie eben doch Glück! Tante Mitzi fuhr fallweise nach Wien, um ihre andere Schwester, Tante Anni, zu besuchen und ging danach in den Prater zu den Spielautomaten.
Wer weiß schon, wie viel Geld sie auf die eine oder andere Art im Lauf der Zeit verspielte. Meine Mutter schimpfte mit ihr: „Du könntest dir so ein schönes Leben machen!“ Darum erzählte Tante Mitzi uns bald nur noch, wenn sie gewonnen hatte und verschwieg die Verluste.

Ich war schon 13 oder 14, da rief Tante Mitzi an und fragte, ob sie nicht wieder einmal auf uns aufpassen solle. Meine Mutter sagte ihr, wir wären schon groß genug, um allein zu bleiben. Wir besuchten Tante Mitzi nur noch selten.
Tante Mitzi war nie ein Pflegefall. Sie war körperlich ganz gesund, aber ab Mitte 70 schon ziemlich verwirrt. Kurz, bevor sie ins Heim sollte, fand meine Mutter sie tot auf ihrem Bett – Herzinfarkt. Die Nachbarin gab meiner Mutter ein Stamperl Schnaps.
Tante Mitzi hatte nichts zu vererben außer einer alten Sitzgarnitur, ein paar Kästen und einem Tisch ohne Bestecklade. Der letzte Maxi war schon einige Zeit vor ihr gestorben.

Wann immer irgendwo ein Foto vom strahlenden Bundeskanzler Figl mit dem Staatsvertrag auf dem Balkon auftaucht, sucht meine Mutter heute noch mit der Lupe Tante Mitzi im Getümmel. Bis jetzt vergeblich. Aber dort, wo die jubelnden Menschen zu sehen sind, ist ihre Handtasche ganz sicher dabei.

Erschienen in: „Zeitgeschichten“ Anthologie zum Linken Wort 2014, Hrsg. von Christoph Kepplinger-Prinz, Globus-Verlag, Wien 2015, S. 141 ff.