MITGLIEDER

Text von:
Elisabeth Weissensteiner

Textprobe

Doch auch ich kleiner Teufel – denn ich gehöre ja angeblich zu der kleinen, nestbauenden Art, die sich auch an Grenzen wie Kirchendächern niederlässt – weiß, wie gut Menschen sich selbst was vormachen. Welche Lust sie am Selbstbetrug haben. Wie sie das Leben genießen, wenn sie sich selbst hinters Licht führen können. Wie ihr Stolz wächst, wenn sie sich selbst belügen können. Was gibt es Besseres für mich Teufel! Am Anfang hab ich noch gedacht, dass ich mit Steinen werfen muss, um meine Stellung zu halten. Aber weit gefehlt! Ich musste niemals selbst werfen. Die Menschen haben mir die Würfe immer abgenommen. Immer, wenn ich einen Stein aufhob und mit meinem Arm ausholte, waren gleich mehrere Menschen um mich herum, die mir den Stein aus der Hand nahmen, ja sich geradezu balgten, einander zu verdrängen suchten, um den Teufelsstein in die eigenen Hände zu bekommen und selbst zu werfen. Sie haben mit meinen Steinen meine Würfe getan. Sie haben gezielt und getroffen und sich über die Opfer gefreut. Und nach wie vor glauben sie, dass ich es gewesen bin. Ich, der Teufel. Und sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass sie mir überlegen sind. Dass nur ich es bin, der versteinert wird, weil angeblich nur ich allein die Grenze zum Licht und zur Glückseligkeit nicht überschreiten kann.
Das ist die Quelle meiner ungebrochenen Heiterkeit, meiner satanischen Heiterkeit. Diese Quelle versiegt nicht. Sie sprudelt durch die Jahrhunderte.

Textprobe aus: Zum Teufel, Kurzgeschichte, In Wolfgang Kühn (Hg.): Mein Industrieviertel – Anthologie, S. 274-275. Literaturedition Niederösterreich, Sankt Pölten 2017