MITGLIEDER
Text von:Elke Laznia
kindheitswald
Stirb doch
Der stirbt. Hat er mir nicht gesagt, aber ich weiß es. Gesagt hat er gar nichts. Er sagt nichts. Und als ich ihn fragte, was habt ihr denn so geredet, hat er gesagt, was man halt so redet. Was hat er erzählt, hab ich gefragt, ja was soll er denn erzählen, hat er gesagt. Was hast du denn erzählt, hab ich gefragt. Was man halt so erzählt. Was man so spricht miteinander. Was spricht man denn so mit einem, den man dreißig Jahre nicht gesehen hat, hab ich ihn gefragt. Da hab ich durchs Telefon gespürt, wie er die Augen verdreht, gehört, wie er kurz ausatmet. Immer meine lästigen Fragen. Ich weiß, das hat er gedacht. Stirbt er, hab ich gefragt, jeder stirbt, hat er gesagt. Aber ist es schlimm, hab ich gefragt. Ja, hat er gesagt. Wirst du ihn wieder besuchen, hab ich gefragt, ja, hat er gesagt. Warum, hab ich gefragt. Wirst dir auch überlegen müssen, ob du hin willst, hat er gesagt. Was glaubst du, was ich tun soll, hab ich gefragt. Deine Sache, geht mich nichts an. Warum geht es dich nichts an, hab ich gefragt. Wieder das Augenverdrehen und hörbare Ausatmen, weil es mir egal ist, hat er gesagt. Ich weiß. Nein, werd nicht hingehen, hab ich gesagt. Ja, deine Sache hat er gesagt und aufgelegt, wie er immer auflegt.
Nein, ich werde nicht hingehen. Zu ihm. Zu dem. Dem seine Schuld vergeben, ihm einen Abschied erlauben. Ich gebe ihm diesen Abschied nicht, reiche ihm nicht die Hand, gebe nicht meinen Hass aus der Hand, aus den Augen, aus dem Sinn. Wasche ihm nicht die Schuld von seinen Händen. Der hat mich nie an der Hand gehalten, nie hochgehalten, gegen die Nacht oder gegen das Gerede der Leute, gegen was auch immer.
Halte mir die Hände vor die Augen, halte mir die Augen zu. Bin nicht da. Aus den Augen aus dem Sinn.
Bist damals gegangen, um alles hinter dir zu lassen. Hast die Frau, die Kinder, den Alkohol, das verschuldete Haus hinter dir gelassen und bist gegangen. Hast geglaubt, neu beginnen zu können. Hast gedacht, es ginge einfach. Es ging einfach. Hast dir die Vergangenheit wie mit einem Lauskamm aus den Haaren gekämmt. Da ist er gegangen und hat ein neues Leben begonnen, sich eine neue Frau gefunden und neue Kinder gezeugt und die Vergangenheit wie mit einem Lauskamm aus den Haaren gekämmt.
Hat getan, als wäre nichts gewesen, hat vor den größer und größer werdenden Kindern seine Vergangenheit verheimlicht, als hätte es sie nie gegeben, als hätte es uns nie gegeben. Als hätte es mich nicht gegeben. Nicht gegeben. Hat sich uns abgeschüttelt. Sich unser entledigt. Und sich nicht umgedreht, so getan, als wäre nichts gewesen, als hätten wir an ihm keine Spuren hinterlassen, wir haben an ihm keine Spuren hinterlassen, ich habe an ihm keine Spuren hinterlassen. Spurlos. Als wäre nichts gewesen. Es ist nichts gewesen. Es ist nichts. Hat sich die Vergangenheit wie mit einem Lauskamm aus den Haaren gekämmt.
Wir sind über die tiefen Furchen seiner Spuren gefallen. Er hat sich eingegraben, in uns und überall um uns seine Spuren, seine Lücken, seine Gräben, in die wir hinein fielen und nicht ankamen. Nicht ankamen. Bodenlos.
(aus: kindheitswald; Roman; müry-salzmann-Verlag, Salzburg 2014)