MITGLIEDER
Text von:Angelika Ganser
Auszug aus "Tabu"
Der abgewandte Blick bei geschlossenen Augen, das Profil des Gesichts, Oberkörper und die hinter dem Kopf verschränkten Arme zugewandt, sich zum Betrachter hin öffnend, ein Mädchen, vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahre vielleicht, als sei es sowohl für sich als auch sich gleichzeitig dessen bewusst, dass es dem Blick des Betrachters ausgesetzt war, die zum Betrachter hin halb geöffneten Schenkel im Halbschatten, rot der nach oben gerutschte Rock und die Schuhe, sichtbar zwischen den geöffneten Schenkeln ein Stück weißen Höschens, das wie das Profil des Gesichts im Lichtbezirk lag. Gegenwärtig, jener durch das Gemälde verewigte Augenblick, jene Pose der „Träumenden Therese“, in ihrem Für-sich-Sein keineswegs provozierend, es ist der Blick des Betrachters, der diese Pose tabuisiert, ihr sowohl Reiz des Verbotenen als auch die mit dem Überschreiten eines Verbots verbundene Lust und Angst in sie legt. Ein seltsamer Spiegel, der dem Betrachter genau jenes Bild von sich zurückwirft, welches er gerade nicht von sich zu sehen begehrt. Schau, wir kannten uns noch kaum, und schon zettelte das Leben an, was nötig war, damit wir uns haarscharf verfehlten. Da du dich nicht verstellen konntest, merkte ich sogleich, dass man, um dich so zu sehen, wie ich es wollte, notwendigerweise damit anfangen musste, die Augen zu schließen. Du hattest beschlossen zu schweigen, die an dich gerichteten Worte prallten an dir ab, kehrten zu mir zurück, wurden bezuglos, es kostete Mühe, sie nicht ins Beliebige gleiten zu lassen, sich ihrem Drängen ins Bedeutungslose zu entziehen, die Egalität, mit der ich dem Schmerz zu entkommen versuchte - vielleicht war das Abgleiten ins Beliebige und Bedeutungslose aber auch ein Versuch des Geheimnisses, sich einem allzu direkten Zugriff zu entziehen, indem es dazu einlud abzuschweifen, Bedeutungsfelder, deren Fremdheit möglicherweise nur eine scheinbare war, zu betreten: moosüberwuchert, Wälder aus Farnkraut und Pfauengefieder, das Piktogramm eines Auges in unendlicher Wiederholung als sanfte Berührung.
Aus dem derzeit im Entstehen begriffenen Roman „Tabu“. Die kursiv gesetzte Passage ist dem Roman „Rayuela“ von Julio Cortazar entnommen.