MITGLIEDER

Text von:
Schulamit Meixner

und alles wird gut (Auszug)

mein name ist marie francois ohne e. meine mutter nannte mich so, da sie mich nicht bereits im frühkindlichen alter auf eine geschlechtsspezifische rolle festlegen wollte. sein geschlecht zu wechseln sei einfacher als den namen, und durch das vorangesetzte marie sei die priorität eindeutig feminin. erst das zeitalter von internet brachte mir die ernüchternde erkenntnis, dass   m e h r e r e   französische staatsm ä n n e r  denselben namen trugen.

als wahre vertreterin der 68iger generation war nikole sand (meine mutter) überglücklich, ein kind in diesem geschichtsträchtigen jahr zu produzieren und in die welt zu setzen. durch die studentenbewegung nach frankreich gebracht, fraternisierte und protestierte sie 7 ½ monate, genauso lange, wie sie mit mir schwanger war. leider beharrte der algerische arzt auf dem errechneten geburtstermin januar 1969, den aber meine mutter keineswegs akzeptieren wollte. da nikole diese einmalige historische chance nicht ungenützt verstreichen lassen konnte, bestand sie, begünstigt durch anhaltende blutungen und einer vorgelagerten plazenta, auf eine sectio caesarea, die am 26.11.68 um 19.40 Uhr in einem vorort von paris vollzogen worden war. ausgestattet mit nicht vollends ausgereiften lungen sowie einem undefinierbarem nebengeräusch im herzen, wurde ich der einzig vollkommenen geborgenheit entrissen und in eine blutende welt verstoßen.

ebenso weigerte sich meine mutter, mich in ein traditionelles familiengefüge hineinzugebären. ich hatte nie einen vater, ich hatte fünf. fünf, die ich nicht kannte, fünf, von denen sie kleine ungerahmte portraitfotos besaß, zwei in farbe, drei in schwarzweiß, und alle mit eselsohren. als ich im alter von zwölf jahren, und bereits in wien sesshaft, penetranterweise von ihr wissen wollte, wer mein vater sei, nahm nikole die fünf fotos, mischte sie wie ein kartenspiel und hielt sie aufgefächert in ihrer hand, die rückseiten mir zugewandt. zieh einen, war ihre antwort.

(aus: „und alles wird gut“, Romanskizze, unveröffentlicht)