MITGLIEDER
Text von:Bastian Kresser
Auszug aus "Piet"
Nach dem Essen gehe ich mit Christoph auf den Balkon. Ich rauche eine Zigarette, er einen Zigarillo. In der Ferne sehe ich, dass jemand auf dem Patscherkofel ein großes Feuer gemacht hat. Ich deute mit dem Finger in die Richtung. Als Christoph das Feuer entdeckt hat, nickt er, klopft gegen die Fensterscheibe und zeigt es Andrea und den Kindern.
Er erzählt mir von einem fünfzigjährigen Klienten, der ihm gestanden hat, dass er weder lesen noch schreiben kann und seine Familie nichts davon weiß. Ich erzähle ihm von meinen Unterrichtsvorbereitungen und davon, dass Elisabeth sich zwei Mal bei mir gemeldet hat.
„Sie würde sich gerne auf einen Kaffee mit mir treffen“, sage ich.
Mein Bruder zieht an seinem Zigarillo, bläst den Rauch in die Nacht und nickt.
Wir schweigen.
Durchs Fenster sehe ich, wie Andrea und die Kinder das Geschirr abräumen und danach das Monopoly-Spielfeld aufbauen.
„Es gibt einen Ort in England“, sage ich, „durch den die Nullmeridianlinie führt.“
„Greenwich“, sagt mein Bruder leise.
„In der Nähe des Greenwich Parks hat man diese Linie auf dem Boden eingezeichnet. Man sagt, dass an diesem Ort die Zeit beginnt. Und dass sie dort auch endet.“ Ich schaue meinem Bruder ins Gesicht. „Es wäre der perfekte Ort für einen Neubeginn“, sage ich.
Christoph nickt und nimmt einen letzten kurzen Zug, bevor er den Zigarillo in den Garten seines Nachbarn wirft. „Dann sollten wir vielleicht einmal hinfliegen“, sagt er.
„Vielleicht in den Herbstferien“, sage ich. „Es gibt bestimmt billige Flüge.“
Christoph blickt zum Feuer auf dem Patscherkofel. „Vielleicht dann, ja.“
Ich schaue kurz nach drinnen, ob Andrea uns beobachtet, dann werfe ich meinen Zigarettenstummel ebenfalls in den Garten der Nachbarn. Ich klopfe meinem Bruder auf die Schulter und deute mit dem Kopf in die Küche. Andrea, Felix und Emma sitzen rund um das aufgebaute Spielfeld.
„Lass uns Monopoly spielen“, sage ich.
Christoph lächelt. „Das ist eine gute Idee“, sagt er.
An diesem Abend gewinnt er.
Ich habe ihn gewinnen lassen.
Ob Andrea das auch getan hat, weiß ich nicht.