MITGLIEDER

Text von:
Andreas Jungwirth

kein einziges Wort

Als Nächstes versperrt mir der Größte von ihnen den Weg. Dann ziehen die anderen einen Kreis um mich. Ungefähr fünfzehn Augenpaare blitzen mich an. Mein Magen verknotet sich. Mir wird heiß. Schweiß schießt aus all meinen Poren. Ich will weg. Logisch. Aber wohin? Ich drehe meinen Kopf nach rechts und nach links. Unmöglich kann ich alle gleichzeitig im Blick behalten. Also fixiere ich mein Gegenüber. In der Klasse sitzt er zwei Reihen hinter mir. Jetzt steht er einen halben Meter vor mir. Und ich warte auf die erste doofe Meldung. »Wir bringen dich jetzt zum Reden, Mann!« Ja. Genau. So was zum Beispiel. Ich schweige. »Also sag was!« Die Stimme des Anführers klingt scharf. Sag was! Kommt von den anderen, mehrstimmig. Statt zu sprechen, schließe ich die Augen. Ich zittere unter der Haut. Aber ich sage nichts. »Schau mich an!«, zischt der Anführer. Ein Raunen folgt. Von mir aus sollen sie mich doch ausquetschen! Aber sie haben überhaupt keine Fragen. Sie wollen auch nichts von mir erfahren. Ich interessiere sie nicht. Ich soll einfach nur reden. Und: »Wenn nötig, prügeln wir auch was aus dir heraus.« »Irgendwas!«, schreit jemand hinter mir. Reden! Red-den!, beginnen ein paar zu skandieren. Nicht, dass ich nicht sprechen kann. Das ist es nicht. Ich rede einfach nicht mehr. Kein Wort. Kein einiges Wort, seit dem Tag, an dem meine Eltern, meine Schwester Anne und ich in dieses Provinznest gezogen sind. Seit drei Wochen halte ich schon durch. Re-den! Re-den! Re-den!, hörte ich den Chor in meinem Kopf dröhnen. Und sie kommen näher. Es wird lauter. Gleich werde ich Finger, Hände und Fäuste spüren. Sie werden mich zu Boden reißen. Auf den Asphalt. Mich schlagen. Treten. Was immer in den nächsten Sekunden passieren wird, ich werde auch jetzt nichts sagen. Kein Sterbenswort. Re-den! Re-den! Aber plötzlich tut sich etwas um mich herum. Irgendeine Bewegung. Eine Veränderung. Die Stimmen werden leiser. Schritte. Jemand? Und noch bevor ich die Augen öffnen kann: »Lasst ihn in Frieden!« Ein Typ. Er hat sich in die Mitte des Kreises gedrängt. Er ist älter als die anderen und niemand hat ihn aufgehalten. Nur der Anführer, lässt sich nicht einschüchtern: Was soll das? Das ist nicht dein Ding! Wir müssen hier was klären. Ohne Vorwarnung bekommt er von dem Typen einen Schlag gegen die Brust. Und hätten ihn nicht ein paar andere aufgefangen, läge er jetzt auf dem Asphalt. »Hi«, der Typ streckt mir die Hand hin. »Ich bin Chris. Du wohnst doch jetzt auch in der U-Straße.« Ich starre ihn nur an. Chris? Chris ist mir bisher noch nie auf- gefallen. Weder in der Schule, noch in der Straße in U-Form, an der meine Eltern ein Haus gemietet haben. »Wann hast du Unterricht aus?«, redet er weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass sich der, dem er gerade einen Schlag verpasst hat, nur deshalb nicht auf ihn stürzen kann, weil ihn die anderen zurückhalten. Aber er stößt bissige Drohungen aus, gegen mich, gegen Chris. Nun wartet auch Chris, dass ich was sage. Und als von mir nichts kommt, fragt er seelenruhig in die Runde: »Wann hat er Schule aus?« Blitzende Augen. Hass. Keine Antwort. Erst nachdem Chris seine Frage zweimal wiederholt hat, sage ich leise: In zwei Stunden. »Okay!« Shit! Chris wendet sich wieder mir zu. Erst jetzt realisiere ich – ich habe gesprochen. Shit! Zum ersten Mal seit drei Wochen. Shit! »Ich warte hier auf dich.« Chris’ Hand steht immer noch zwischen uns. »Und besser du nimmst sie.« Ich nehme sie. Er lächelt kurz. Anschließend legt er seinen Arm um meine Schulter. Dann gehen wir. Meine Mitschüler glotzen feindselig. Chris und ich verlassen den Kreis. Und ich atme durch – so tief, als hätte ich drei Wochen lang die Luft angehalten.

(aus: Kein einziges Wort, Ravensburger Buchverlag 2014)