MITGLIEDER

Text von:
Anne Marie Pircher

Zu den Linien (Auszug)

…. Er muss nur das Haar aus seinen Schläfen kraulen, um in der Dunkelheit noch immer zu lächeln. Zwischendurch fallen seine blauen Augen zu, wenn etwas in seiner Nacht intensiver wird. Astor Piazzolla. Close your eyes and listen. Oder Zucchero. Così celeste, she’s my babe. Meine Töchter springen auf die Barrikaden, wenn ich seine Musik aufdrehe. Voriges Jahrhundert, sagen sie, und mir wird klar, dass meine Geschichte zu den Akten gehört. Aber diese Hand, die jetzt über die schmale Nase fährt. Immer wieder. Er muss sich berühren, um das schwarze Chaos zu meistern. Ich muss ihn ansehen, um alle Bilder zu vergessen und diesen einen Grund meiner Reise zu verstehen.
Margaretengürtel. Umsteigen zu den Linien 6 und 18. Ausstieg links.
Die Maultasch hat mit diesem Namen, den der 5. Bezirk trägt, nichts zu tun. Solche Dinge lese ich, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Seine Hand lässt sich durch keine Station stoppen. Die Nase muss jetzt, wie sein Haar, bis ins Unendliche erspürt werden. Nur im Rausch des Aus- und Einstiegs hält er kurz inne, senkt den Kopf, Daumen und Zeigefinger still an der Nasenwurzel. Und lächelt. Der Bananenfresser wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er mich verlässt. Ich öffne meine Beine und nehme mir vor, mich durch niemanden mehr einschüchtern zu lassen. Doch der Farbige, der sich an seine Stelle setzt, lässt mir keine Wahl. Seine Beine sind zu lang, um meinen auszuweichen. Es liegt wie immer an mir, die Situation zu meistern. Weil er schwarz ist, muss ich mich zügeln, ihn zu lange anzusehen. Die Frau neben mir klebt immer noch an ihrem Mobiltelefon. Ich weiß jetzt nicht nur, wie ihr Badezimmer aussieht, sondern kenne auch die Farbe ihres Sofas und das Muster ihrer neuen Vorhänge. Der himbeerrote Lack an ihren Zehennägeln müsste erneuert werden. Aber dafür bräuchte diese Frau Zeit. Wenn ich mir seine Dunkelheit vorstellen will, hilft es nicht, die Augen zu schließen. Besser ist es, ich tauche in sein Gesicht und folge mit meinem Blick der Linie, die seine Hand zeichnet.
Längenfeldgasse. Umsteigen zu den Linien U6 und 12A.
Ich habe keine Angst mehr. Eine Ausstiegsmöglichkeit ist bedeutungslos gegen eine Hand, die ein Gesicht streichelt. Er spürt mich. Seit seine Hand den Mund berührt hat, weiß ich das. Das Parfüm meiner Sitznachbarin, die ich mir ohne Telefon am Ohr gar nicht vorstellen kann, bereitet mir Schwierigkeiten. Ich bräuchte meine Nase für diesen Mund, der für mich gestreichelt wird. Rhabarber. Klatschmohn. Wir werden noch lange nicht fertig sein. Wenn diese Einheiten aufhören, wird seine Hand mit dem Silberring an einer anderen Stelle fortfahren. Vielleicht am Ohr, aber auch das Kinn könnte ich mir vorstellen. Darin liegt eine Mulde, ein kleines Loch, um das sein Finger kreisen könnte. Ich fixiere ihn. Auf die Gesichter, die um uns wechseln, gehe ich nicht mehr ein. Selbst den Schwarzen mit den langen Beinen vergesse ich, weil er sich hinter einer Zeitung verschanzt hat …

Aus: Zu den Linien (Erzählungen 2014, edition laurin, Innsbruck)