MITGLIEDER

Text von:
Markus Lindner

Das Schichteln

Der Arbeitstag war in drei Schichten geteilt: die Frühschicht, die Nachmittagsschicht und die Nachtschicht. Die Arbeitswochen organisierten sich zu Frühschichtwochen, Nachmittagsschichtwochen und Nachtschichtwochen.
Die Frühschicht begann um 3 Uhr und endete um 12 Uhr 30. Die Nachmittagsschicht begann um 12 Uhr und endete um 19 Uhr 30. Die Nachtschicht schließlich begann um 19 Uhr und endete um 3 Uhr 30. Die Aneinanderreihungen von Arbeitsschichten führten zu Zeitausgleichen, und so verschoben sich die Arbeitsräder über die Wochenenden. Schicht-um-Schicht-Geschichte. Manchmal sahen die Kinder den Vater also nur schlafen und irgendwann am späten Nachmittag aufstehen, sich vorbereiten auf die Nachtschicht (sie sei die anstrengendste Schicht meinte die Mutter, er selber jammerte nie, manchmal seufzte er und immerzu rauchte er). Manchmal schichtelte er am Wochenende. Manchmal fuhren sie abends, im Sommer, zum See.
Irgendwann war der Sohn zum ersten Mal dort, im Schicht-Werk.
Das Werk liegt am Fluss und ist immer noch in Betrieb. Seit dem achten Jahrhundert wird dort Kupfer verschmolzen. Das Werk ist einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Region. Ein Dutzend Kamine, ziegelsteinerne, metallene, rußig-schwarz, die moderneren verchromten Rohre, manche prusten hellgraue, dichte Wolken hervor wie Wolkenfabriken, andere rauchen eher schwarz-durchsichtig, wie schwarze Seide. Langgezogene Hallen, und dahinter die berohrten, stählernen, hoch aufragenden Hochöfen.
Hinter dem Werk liegt ein etwa zweihundert Meter hoher Felsblock mit einer Marienkapelle und ein paar Bäumen darauf, eingewickelt jeden Tag, mal mehr, mal weniger - es kommt ganz auf die Windrichtung an - umwickelt von der schwarzen Seide des Dioxins, wie Messungen in den 1980ern plötzlich herausfinden.
Das Werk brummt, die Schlote rauchen und ein metallisch-scharfer Geruch liegt nicht nur in der Luft, sondern drückt die Luft nieder, macht sie ganz schwer. Vor dem Werk, das umzäunt ist mit Stacheldraht und Beton, der Autoparkplatz für die Arbeiter, im Schatten der mächtigen, seidig angeschwärzten Linden, auf denen nie auch nur ein Vogel sitzt. Überhaupt leblos, gemieden von allem Lebendigen außer den Menschen. Ein Teil des Alpbachs wird abgeleitet, durchs Werk hindurch, nach der Wiedereinleitung gibt es keine Fische mehr. Zwischen dem Werk und dem Fluss eine kleine Siedlung mit zwei, drei Häusern, bewohnt von Migranten und Werkarbeitern. Über den Fluss eine Brücke, dahinter gleich die Bahnbrücke, der nahe gelegene Bahnhof schließt das Werk ans nationale Schienennetz an. Hinter den beiden Brücken liegt im Fluss die zerbombte Brücke aus dem Krieg und macht immer noch Stromschnellen. [...]
Die Schichten im Werk unterscheiden sich kaum, denn es gibt immer den Lärm, die Hitze der Schmelze und die drückende Luft, alle haben die „Blaue“ (Arbeitsmontur) und kräftige Schuhe an und schwitzen. […]

Aus: Schmelze. Das Schichteln, S. 10.  Bibliothek der Provinz, Weitra 2014