MITGLIEDER

Text von:
Hildegard Kokarnig

MATA HARI VON WEINGARTEN

Meine Nachbarin war eine wandelnde Bar und eine Bibliothek. Sie strickte und philosophierte, trank Schwarztee und einen Liter Sliwowitz pro Tag. Bevor sie mit Delirium tremens ins Krankenhaus eingeliefert wurde, malte sie sich die Lippen rot. Eine konturlose Wunde, die mit ihren schwarzen, buschigen Augenbrauen kontrastierte, der Zigarettenspitz dauerlippenstiftverschmiert. Ich las mit ihr, hörte ihr zu. Während sie das nächste Glas Schnaps aus dem geschliffenen Glas in sich hinein stürzte, erzählte sie mir von Wassermann, Wieland, Simenon und Colette. Sie war mein Lexikon. Sie sah mich wachsen, ich sah sie vergehen. Säuferrheuma, sagte sie und lächelte. Ich war dabei, als sie sich im Regen auf der Wiese, nur mit einem Unterrock bekleidet, ins Gras warf und Beethovens Freude schöner Götterfunken grölte. Ich lernte, dass Leidenschaft und Verfall nebeneinander bestehen können. Sie war eine schöne Frau gewesen. Die warmherzigste, klügste, exzessivste Begegnung meiner Jugend.