MITGLIEDER
Text von:Norbert Silberbauer
DIE UNMÄSSIGIKEIT
Max hat sich für Andrea eine Überraschung ausgedacht. Nur mit einem schwarzen Tanga bekleidet steht er vor ihr. Und an dem Tanga, vorne, ist eine rote Zunge aufgenäht, auf der steht: ziehen. In der rechten Hand hält Max eine kleine Rute aus Reisig. Er wünsche ihr einen schönen Krampus, sagt er; Andrea lacht, und augenblicklich denkt Max, sie lache über seinen Bauch und nicht über seine Verkleidung. Je kleiner die Unterhose, desto größer wirkt der Bauch. Einige Fettringe hat Max im Laufe der Jahre angesetzt, heute stören sie ihn besonders. Fast siebenundfünfzig ist er nun, kein Jüngling mehr, älter als ein halbes Jahrhundert, ein halbes Jahrhundert – was er erlebt hat, müssen die Jugendlichen schon im Geschichtsunterricht lernen, der Break-even-point des Lebens ist längst erreicht: mehr Erinnerungen als Hoffnungen. Alle großen Wünsche an das Leben ersetzt durch den Wunsch, gesund zu bleiben. In ein paar Jahren wird Max sechzig. Sechzig. Pensionsreif. Sein persönliches Unwort: Pension. Ruhestand. Jene Zeit, in der Ruhe ist, weil einem keiner mehr steht. Aber noch stehen seine Aktien gut, und Andrea steht auf, weil sie sieht, dass ihm einer steht. Sie geht auf ihn zu, lächelt, kniet sich vor ihn hin, beißt in die rote Zunge aus Samt und zieht daran. Der Tanga, der für diesen Zweck präpariert war, fällt zu Boden. Solche Geschenke hasst Andrea, weil sie dem Schenker mehr Freude bereiten als dem Beschenkten. Auch ihr geschiedener Mann hatte ihr stets geschenkt, was ihm Vorteile brachte. Küchengeräte, Kochgeschirr und vor allem Reizwäsche. Jedes Stück Reizwäsche eine Beleidigung.
Quelle: "Sieben Sündenfälle." (S. 157) © 2008 Picus Verlag, Wien.