MITGLIEDER

Text von:
Richard Weihs

1.Kapitel: Jazzland (Ausschnitt)

Das bürgerliche Milieu, dem der Gustl entstammte, war ihm nicht nur aus ideologischen Gründen verhaßt. Der Hauptgrund dafür war sicher sein äußerst konfliktreiches Verhältnis zu seinem Vater: Dieser, ein biederer Beamter der Österreichischen Bundesgebäudeverwaltung, meinte es auf seine Art sicher gut mit dem musikbesessenen Sohn - aber er hatte absolut kein Verständnis für dessen zweifelhafte berufliche Ambitionen. Im Absingen wild-rhythmischer Negermusik konnte er beim besten Willen keine akzeptablen Zukunftsperspektiven für sein einziges Kind erkennen - also drängte er sehr massiv auf eine solide Ausbildung mit intakten Berufschancen.

Leicht hatten es die Zeliborskys ja wirklich nicht mit ihrem mißratenen Sprößling: Als ich ihn kennenlernte, war er schon von mindestens drei Schulen geflogen. Der extrem fordernden Kombination aus notorischem Zuspätkommen, aggressiver Insubordination und provokantem Desinteresse am Unterrichtsstoff zeigten sich eben nur die allerwenigsten Lehrkräfte gewachsen. Aber natürlich hatten sie auch keine Ahnung, daß der Gustl aus gutem Grund nur geringe Aufmerksamkeit für schulische Belange erübrigen konnte: Schließlich nahm ja das Studium des Blues fast seine gesamte Zeit und Kraft in Anspruch!

Mit fast religiöser Hingabe widmete er sich dem Erlernen jener ganz spezifischen und sehr differenzierten Gitarrenstile, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den verschiedenen Regionen der amerikanischen Südstaaten entstanden waren. Akribisch legte er Transkriptionen alter Schellack-Aufnahmen an, die für das ungeschulte Ohr eines Laien hauptsächlich aus Rauschen und Knistern zu bestehen schienen. In gewisser Weise war er darin seinem ebenso peniblen Beamten-Vater gar nicht so unähnlich - obwohl ihm das damals natürlich keiner hätte sagen dürfen.

Unvergeßlich geblieben ist mir eine sehr bezeichnende Szene aus jenen Tagen: Wir beide hockten schon seit Stunden in Gustls Zimmer vor dem Plattenspieler und versuchten durch ständig wiederholtes Anhören des "Mississippi Blues" von Willie Brown den kaum verständlichen Text des Songs zu entschlüsseln. Zwar hatte sich der Gustl schon einen veritablen Südstaaten-Akzent zugelegt, aber gewisse Slang-Ausdrücke, mit rauher Stimme vorgetragen und in miserabler Tonqualität wiedergegeben, stellten sogar seine fundierten Kenntnisse auf eine harte Probe. Gerade als er aber den Tonarm des Plattenspielers zum x-ten Mal zurück zum Anfang des Liedes setzen wollte, wurde die Zimmertür unsanft aufgestoßen und im Türrahmen erschien die füllige Figur Herrn Zeliborskys, eher unvorteilhaft verpackt in einen enganliegenden türkisfarbenen Frotteé-Pyjama.

"Is da jetzt vielleicht bald amal a Ruah?!" herrschte er seinen Sohn mit vor Empörung bebender Stimme an. "Da stellts einem ja die Zechnnägl auf bei dem ewichen Gejeier!" Diese inkompetente Beleidigung eines seiner größten Idole konnte der Gustl natürlich nicht so einfach auf sich beruhen lassen: "Geh bitte, red net, du host jo überhaupt ka Ahnung!" Mehr hatte ihm nicht gefehlt. Das ohnedies schon schwer gereizte Familienoberhaupt tat einen cholerischen Brüller: "Rotzbua, goscherter, na wart, dir werd is geben!" und enterte kugelblitzartig das Gemach seines unbotmäßigen Sprößlings. Der ihm zugedachten Tachtel entging Gustl zwar durch ein infolge jahrelanger Übung sehr gekonntes Ausweichmanöver. Stattdessen aber kollidierte die strafende väterliche Hand mit dem Tonarm des Plattenspielers und es ertönte ein schmerzvoller Aufschrei Willie Browns, der mit einem häßlichen Kratzgeräusch verendete.

Mit der düsteren Drohung: "Und wann jetzt net glei a Ruah is ...!" trat daraufhin Vater Zeliborsky den Rückzug an. Zurück blieben ein arg zerkratztes Exemplar der äußerst seltenen LP "Cream Of The Delta Blues Singers" und ein darob noch ärger geknickter Gustl, dem eine bittere Mischung aus Wut, Demütigung und Trauer die Tränen in die Augen trieb. Mit einem Wort: Der Gustl hatte den Blues!

Quelle: Der Blues-Gustl - Eine Wiener Legende, Edition Aramo, Krems 2001