MITGLIEDER

Text von:
Anna Weidenholzer

Großvaters Namen

Der Spiegel, liest Oskar, wurde von den Toten als Durchgang benutzt, durch den sie die Welt der Lebenden besuchen konnten. Oskar sitzt an der Donau. Zu seiner linken die Brücke, zu seiner rechten der Mülleimer. Oskar liest, Oskar schaut. Oskar schreibt: Die Donau spiegelt nicht, spiegelt nichts. Mattgrün schiebt sie sich durch die Stadt, heute, an manchen Tagen ist sie braun. Die slowakischen Pflegerinnen waren nicht gekommen, und der Vater sang, nachdem Großvater in die Erde hinab gelassen worden war. Ein Gegrüßest-seist-du-Maria war ihm vorangegangen. Wir aßen Frittatensuppe, Rindfleisch und Semmelkren. Die slowakischen Pflegerinnen waren nicht gekommen. Niemand hatte sie eingeladen. Heute bin ich rot, morgen bin ich tot, sang der Vater, er war weiß dabei. Oskar sieht einen Mann vorübergehen, er geht langsam. Der Wind hebt seinen Mantel ein Stück. Die slowakischen Krankenpflegerinnen hatten Namen, die sich Großvater nicht merkte, die sich Vater nicht merkte. Denisa und Danka. Wenn Denisa nach zwei Wochen ihre Schicht beendete und zu ihren Kindern fuhr, kam Danka. Wenn Danka nach zwei Wochen ihre Schicht beendete und zu ihrer Mutter fuhr, kam Denisa. Denisa und Danka schliefen im Wohnzimmer auf der Couch, auf der sonst niemand geschlafen hatte, nur die Hündin in unbeobachteten Momenten, und als sie noch lebte. Denisa und Danka waren rund um die Uhr mit dem Großvater. Sie wuschen den Großvaterkörper, wuschen weg, was er nicht in sich halten konnte. Der Mann, der an Oskar vorüber gegangen ist, kommt zurück. Er steht dicht neben Oskar, er wirft ein Taschentuch in den Mülleimer. Dann geht er weiter. Den Menschen einen Namen geben, schreibt Oskar. Den Menschen Namen geben und sie ihnen lassen. Denisa und Danka. Sechshundertzwanzig Euro überwies der Vater alle zwei Wochen für die Großvaterpflege an die Agentur. Wie viel Denisa und Danka von dem Geld bekamen, sagten sie nicht. Der Vater macht ein Kreuzzeichen, jeden Tag, bevor er den Tag beendet und die Augen schließt. Seit fünfzig Jahren macht der Vater jeden Abend ein Kreuzzeichen auf seine Brust. Achtzehntausend Kreuze würden seine Brust bedecken, blieben sie sichtbar. Namen stehen keine darauf. Heute bin ich rot, morgen bin ich tot, sang er. Oskar sieht eine Frau mit Kind. Die Donau, sagt das Kind, als es den Fluss er blickt. Die Donau und wieder: die Donau. Die Donau ist ein Wort aus dem Mund eines Kindes, schreibt Oskar. Duna heißt sie in Ungarn, Dunaj in der Slowakei. Denisas Tochter heißt Elena, Jakub der Sohn. Großvater steckte ihr im ersten Jahr Geld für die Kinder zu. Dann vergaß er die Namen der Kinder. Dann vergaß er, dass es Kinder gab. Er vergaß Denisas Namen, das Geld und am Ende das Leben. Das Kind sitzt nahe Oskar auf dem Boden. Es hat einen Käfer entdeckt, der sich nicht mehr bewegt. Wir müssen ihn teilen, sagt das Kind und streicht mit der Hand über ihn. Nicht teilen, heilen, sagt die Frau. Hat er Fieber, das Kind. Vater hatte nicht vergessen, Denisa und Danka einzuladen. Vater wollte Denisa und Danka nicht einladen. Denisa und Danka einzuladen hätte bedeutet, zwei Essen mehr zu bezahlen. Frittatensuppe, Rindfleisch, Semmelkren. Großvater ging jeden Sonntag mit Denisa oder Danka zum Stadtwirt. Er ließ sich in seinem Rollstuhl schieben und bekam zuerst ein Glas Sekt, dann ein Glas Bier auf den Tisch gestellt. Wein trank Großvater erst, wenn es dunkel wurde. Oskar kaut am Ende des Stiftes, er hinterlässt kleine Punkte im Plastik. Er reißt eine Seite aus seinem Notizbuch, er schreibt: Liebe Denisa, liebe Danka. Er zerknüllt den Zettel, wirft ihn zum Taschentuch in den Mülleimer. Denisa und Danka. Großvater mochte den Fluss. Er mochte, wenn er langsam floss, und er zeigte mir Flaschenpost. Er hatte ein Buch mit Namen begonnen, nachdem sie ihm immer seltener eingefallen waren. Oskar: Enkel, struppiges Haar, stand darin. Danach: Danka und Denisa: Pflegerinnen. Danka: braunes Haar, Denisa: braunes Haar, aber mehr schwarz.