MITGLIEDER

Text von:
Clemens J. Setz

Drei Gedichte

An den Leser

O ja, da bin ich mir sicher, dass du,
würde ich vor dir sitzend erscheinen
während du liest,
mir neugierig einen Finger ins Auge,
einen zweiten vielleicht in den Mund legen würdest;
du zähltest meine Zähne und wärst
aufgeregt damit beschäftigt, mein Auge
hin und her, immer hin und her zu drehen,
vielleicht auch, ja, ganz bestimmt sogar würdest du
meine Arme nehmen, sie zwingen zu langer Umarmung
und anschließend verknoten vor meinem Gesicht.
Mit einem gezielten Tritt in meinen Unterleib
klappst du das Buch zu und rennst aus der Bibliothek.

Und ich, ach, hätte die ganze Zeit nichts als auf meine
Gedichte gedeutet, mit dem Zeigefinger, später
vielleicht mit dem Sehstrahl meiner winselnden Augen:
Auf diese, dann wieder jene besonders
gelungene – findest du nicht? – gelungene Zeile.

Reparatur am kleinen Schiff in der Flasche

Nimm den kleinen, tapferen Steuermann
mit der feinen Pinzette am Kragen
(wie ein winziges Kätzchen am Nackenfell)

und setz ihn zurück vor sein kleines Rad,
vor seinen Kompass, auf den Spielwürfel,
der notgedrungen den Hocker ersetzt.

Und lass ihn aufs Meer sehen, denn er soll nicht
erfahren, dass du seinen Kopf, der verloren ging,
ersetzt hast gegen den unberechenbaren

Schwefelkopf eines Streichholzes.

Der rätselhafte Inhalt eines Pornofilms

In diesem Film (sehr spät am Abend)
geht ein Mann auf der Straße spazieren,
da sieht er eine Frau. Neugierig

folgt er ihr in eine Garage, wo sie
mit der Reparatur eines Fernsehers
beschäftigt ist. Er zieht sich die Hose

herunter und stellt sich vor ihr auf.
Sie fällt auf die Knie und verrichtet
ihre hingebungsvolle Arbeit (leise

schmatzend). Anschließend fragt er sie,
wie sie heißt. Tamara, sagt sie, und du?
Christopher, sagt er, und jetzt?

Der Fernseher ist kaputt, sagt sie.
Das seh ich, sagt er. Gemeinsam
machen sie sich an die Reparatur

des statisch rauschenden Geräts.