MITGLIEDER

Text von:
Peter Bosch

DER BLAUE MANTEL

Es war ein Regenmantel. Ein leichter blauer Regenmantel. Leonard Cohen hat ihn mir geschenkt. Vielleicht ist das wahr. In sein Innenfutter ist ein Saxophon eingenäht. Manchmal fängt es zu spielen an, ganz von alleine. Ich habe es Harvey getauft. Weil nur ich es hören kann. Wenn ich den Mantel anziehe, regnet es nie. Ein ziemlich nutzloser Mantel.
Er paßt zu keiner Jahreszeit: im Winter zu kalt, im Sommer zu warm, zu bunt für den Herbst und für den Frühling zu traurig. Weil es ohnehin egal ist, trage ich ihn das ganze Jahr.

In den Kragen ist eine Trageanleitung eingenäht: Zwei Symbole: eine Lokomotive und eine Hand mit Taschentuch: Ideal geeignet für Abschiede auf Bahnhöfen. Überhaupt ideal geeignet für Abschiede aller Art. Normalerweise verwende ich Stofftaschentücher. Nur bei ihm mache ich eine Ausnahme. Alles andere als Papier wäre für ihn zu schwer. Wenn ich ihn trage, stecke ich auch Schlüssel und Geld-börse in meine Hosentaschen. Er macht Abschiede so wunderbar leicht. Wenn der Zug abfährt, spielt Harvey dazu Bird on the Wire.

Holzbrücken in China. Früher Abend. Laternen am anderen Ufer und unter mir Bambusboote mit bunten Lampions. Harvey schweigt. Wir haben uns alles gesagt. Ich werde ewig hier stehen bleiben und meine Seele notfalls dem Gewürzhändler für einen Papiersack voll Thymian verkaufen. Es beginnt zu regnen, der Jangtsekiang tritt aus den Ufern. Ich schlage den Kragen in die Höhe und warte.
Die Boote treiben an mir vorbei, die Händler winken mir zu, aber ich lasse mich nicht mitnehmen. Ich winke zurück, während sie immer kleiner werden.
Bald ist nichts mehr zu sehen, nur mehr das lehmige Wasser bis zum Horizont und meine Brücke. Ich lasse das Geländer los, drehe mich um und gehe übers Wasser nach Hause.