MITGLIEDER

Text von:
Milan Richter

Großmutter Deutsch

verläßt eines Herbstmorgens am äußersten Ende des Jahrhunderts
Vater Herman, Mutti Neta und das Haus im Dorf Dojc,
in einer Kutsche fährt sie auf Feldwegen über Wälder und Wiesen,
um in Unín den Sohn des Metzgers zu heiraten...
So stell ich
mir sie vor, die junge Jungfrau Josephine,
»Augenfarbe blau, Nasenform gerade, besondere Zeichen keine,«
wie in ihrem Personalausweis vom Beamten
des Kreiskommandos der Volkssicherheit in Skalica vermerkt wurde
ein halbes Jahrhundert später.

Ihr Leben entweicht mir, ich kam zu spät, ihre Venen schon verkalkt,
sie fürchtete sich um die Enkelkinder, beschuldigte die Schwiegertochter,
»du hast die Jungs im Keller eingesperrt, sie werden von Ratten aufgefressen,«
obwohl wir ruhig im Kinderzimmer schliefen...

Zwischen den Kriegen
brachte sie beide Töchter unter die Haube,
Geliebten des Sohnes waren nie koscher genug, ihren Mann
begrub sie, bevor er in den Transport mußte. Mit der Enkelin und dem Sohn
überlebte sie die Pogrome im Lager Sered, Töchter, Schwiegersöhne kamen
nicht zurück aus den polnischen Todeslagern. Lausiger Krieg, im Dorf
fühlte sich niemand schuldig.

Lebenskraft schwand, Gut und Boden mußten versorgt sein. Josephine willigte zu,
der Sohn durfte heiraten, selber schon an der Altersschwelle. Ich erinnere mich
an eine alte Frau, fortwährend im Bett, langes graues Haar, das von
meiner Mutter gekämmt wurde. Gestank vom Greisenurin,
beißender übler Geruch der Jauche, die durch den Hof herabrann,
Vater in Reithosen und Stiefeln, schweratmig betrachtete er sie,
die große jüdische Mutter, die in kleinen Windstössen vollen Bewußtseins,
von hochgestapelten Kissen gestützt,
von ihren Enkeln und Nachbarkindern umgeben,
das ganze Leben mit Befehlen an straffen Zügeln hielt,
und den Tod,
der sich um ihr Zimmer, ums Haus, um die Scheune herumtrieb,
verkleidet zuletzt
als Konfiskatoren von Kartoffeln und Korn,
die ersten StrafkommStrafkommandos
meines Zeitalters.

Quelle: übersetzt von Gerhard Kofler und Milan Richter; aus: Der Engel mit schwarzem Gefieder, Bratislava, 2000