MITGLIEDER

Text von:
Gertraud Klemm

Prolog (Textprobe aus Mutter auf Papier)

Ich bin 5 Jahre alt. Im Sonntagnachmittagsfilm gebiert eine Frau brüllend in Schwarzweiß, etwas geht schief. Sie liegt am Rücken wie ein Käfer, wirft den Kopf hin und her, der Arzt tobt unter dem Leintuch, er schreit: saubere Laken! Heißes Wasser! Mehr heißes Wasser! Eine Dicke mit Kopftuch bringt riesige, dampfende Schüsseln und stellt sie neben das Entbindungsszenario. Alle sind in Panik, nur der Arzt scheint zu wissen, wie es geht. Was macht er nur mit dem Wasser? Ich stelle mir vor, wie er es in die Frau reinleert oder wie er ihre gespreizten Schenkel damit verbrüht. Ich bin überwältigt von Mitgefühl und Abscheu, ich habe mehr Angst, als in mich hineinpasst. Ich ziehe die Beine ganz eng an mich und schwöre mir, niemals Kinder zu bekommen. Die Schmerzen durchbrechen das knisternde Glas des Fernsehers und flitzen jetzt durch den Raum. Pressen, pressen, ruft der Arzt unter dem Leintuch hervor. Noch ein spitzer Schrei, dann blendet die Kamera auf den blassen Vater, der von seinem Warten erlöst wird. Das Wickelkind blickt ernst aus dem Fernseher.

Es ist ein Junge!

Quelle: Mutter auf Papier, Arovell, Gosau 2010