MITGLIEDER
Text von:Wolfgang Kauer
Schneeweiß (Texprobe)
Schneeweiß branden die Wogen des Tethysmeeres Schneeweiß flimmert das Bild in die vordere Augenkammer und durch den Glaskörper treibt es der Netzhaut zu. Doch nur die Hälfte der Zäpfchen nehmen es wahr, die übrigen selektieren die äußere Wirklichkeit. Und diese ist so alltäglich nicht, für ihn, den Menschen aus dem All.
Er konzentriert sich auf jede feine Muskelregung bauchabwärts, als er die Donaubrücke in Richtung Norden quert, allzu lange ist er im All gewesen und seine Glieder wurden zunehmend sperriger.
Wie lange hat er keinen Fluss aus der Nähe gesehen!
Wie lange hat er seinen Fluss nicht gesehn. Hoch über den braunen Schaumkronen hält er sich am Geländer fest, als wäre es die Reling seines Raumschiffs.
Er prüft wiederholt die Distanz zum Museum der Zukunft.
Passanten sind am Überlegen, ihm unter die Arme zu greifen, doch im letzten Moment fahren sie die ihren wieder ein, denn sein jugendliches Gesicht verrät, dass es nicht die Seniorenresidenz ist, die er ansteuert.
Er hätte wirklich öfter trainieren sollen, seine täglich vorgeschriebenen Muskelübungen absolvieren, doch die langwierigen wissenschaftlichen Experimente auf Alpha in the Sky nahmen viel Zeit in Anspruch. Es könnte auch der Selen-Mangel sein, der ihn so schwächt, denkt er, hat er doch ein Jahr lang nur Tubeninhalte und Aufgetautes zu sich nehmen können.
Das Glitzern des Sonnensegels vor seinem Bullauge weicht jetzt wieder für kurze Zeit dem Leuchten des Tethysmeers, das er so gern gemalt hätte, doch wie sollte er Farbe aufs Papier bringen, ohne dass sie ihm entglitte?
Das Leben dort oben – es ist ein einziges Festklammern gewesen.
Durch schmale Schlitze blickt er vom Raumgleiter auf die leuchtende Erde hinab und dann von der Brücke aus zum Stadtberg hinüber und er merkt, die Eindrücke nähern sich schemenhaft an: eine Milchspur auf hellblauer Begrenztheit.
Vivienne rückt ins Bild. Er freut sich auf sie. Nur noch wenige Meter trennen ihn von ihr und vom gemeinsamen? Kind.
Quelle: Schneeweiß. In: Nachtseite. Kurzprosa. Arovell 2007