MITGLIEDER

Text von:
Günther Kaip

Judith+Rotluf = umgekehrt

Die Straßen sind menschenleer. Die Nacht ist ein schwarzer blühender Baum, der vom Himmel hängt. Seine Blätter und Triebe erscheinen im metallenen Licht des Mondes wie Sterne. Zum Bersten ist er gefüllt, mit Licht und Schwefel und eiskaltem Gestein. Heute ist er verlegen.
In der Zwischenzeit flüstert ein Wind Botschaften, schlüpft aus Zorn, weil kein Sturm entstehen will, in alles, was sich bewegt, gibt sich als Seele aus. Diese alte Gewohnheit besänftigt ihn.
Rotluf macht sich zum Ausgehen fertig. Er ist auf der Straße unsicher, welche Richtung er einschlagen soll.
Judith stemmt sich gegen den Wind, um nicht fortgeblasen zu werden. Vor ihrer Brust baumelt ein Herz.
Tausend Kilometer entfernt, es können auch zwei sein, versucht ein Meer Platz zu gewinnen, setzt auf das Gewicht seines Wassers und rennt immer wieder gegen Felsen an, die mit ihren scharfen Kanten und Abbrüchen zwar verletzen, aber da das Meer hartnäckig ist, wird es sie abschleifen, irgendwann, an einem zukünftigen Tag.
Rotluf biegt in eine Seitengasse ein.
Judith lehnt sich an eine Hauswand.
Vor den Mond schiebt sich eine Wolke.
Die Triebe eines Baumes sehen nicht mehr wie Sterne aus.
Der Wind hat die Produktion weiterer Seelen eingestellt und liegt erschöpft auf der Stadt.
Einige Kilometer über einer Insel im Pazifischen Ozean explodiert ein grelles Licht und hellt für Minuten die Nacht auf. Die Bewohner der Insel werden durchsichtig, sie können sich nicht mehr erkennen und spüren gleichzeitig jede Erschütterung in der Landschaft. Schmerz setzt sich in die Augenhöhlen und kriecht in die Schädel.
Gerade betrachtet Weisschläger Lauras Spiegelbild, das ihm zulächelt, bevor es das Zimmer verläßt und in die gefüllte Badewanne steigt. Dort taucht es sofort unter.
Rotluf wechselt die Straßenseite.
Judith wechselt die Straßenseite, weil ihr ein Betrunkener entgegentaumelt, und sie Betrunkene nicht mag. Einen Augenblick lang überlegt sie, ihren Bruder Weisschläger zu besuchen, verwirft diesen Gedanken jedoch, als sie sich erinnert, daß Laura bei ihm ist, wahrscheinlich die ganze Nacht.
Das Herz baumelt vor ihrer Brust. Seine Farbe ist weiß.
Es beginnt zu regnen, und Rotluf flüchtet in einen Hauseingang.
Die Wolkendecke hat sich geschlossen und wird den Mond die ganze Nacht über verbergen.
Tausend Kilometer entfernt, es können auch zwei sein, sammelt das Meer erneut seine ganze Kraft und wirft sich gegen die Felsen.
Judith läuft in einen Hauseingang, zufällig derselbe, in den Rotluf geflüchtet ist, und sie prallt gegen ihn, denn sie hat ihn in der Dunkelheit nicht gesehen, und sofort läßt er seine Zigarette fallen und umschlingt Judith mit beiden Armen, ganz fest hält er sie, sonst würde sie stürzen.
Durch die Insel im Pazifischen Ozean schiebt sich eine schwarze Wand, die Sterne verlöschen, im Meer davor liegen die Steine bewegungslos unten am Grund, Sand fällt wie Schnee auf sie und die Wasseroberfläche wird zum Spiegel, in dem der Himmel nur als flüchtiger Schatten zu erkennen ist. Die Bewohner der Insel heben die Köpfe, sie schauen sich um; sie sehen jedoch nichts, hören nur eine Stille, die lärmt, trommelt: Der Rhythmus kommt ihnen bekannt vor, und sie wiegen im Takt ihre Körper, immer schneller, die Lungen dröhnen, das Blut in den Ohren pocht, und die Augen treten aus ihren Höhlen, wachsen in die Nacht, werden Nacht.

Quelle: lichterloh, das fröhliche wohnzimmer - edition, Wien 1996