MITGLIEDER
Text von:Monika Gentner
Zu leise geweint, zu laut gelacht
Kein Skandal, kein Rummel. Nur das ganz gewöhnliche Schweigen, die stete Lähmung und Hoffnungslosigkeit liegen wie Blei über den Krankenstationen. Eine Patientin erzählt vom Alltag am Steinhof, in Wiens größtem psychiatrischen Krankenhaus.
Es ist sechs Uhr früh. Der Tag graut vor meinem vergitterten Fenster. Ich liege nicht in einem Gitterbett. Die Zimmertür ist unversperrt. Ich ziehe mich an. Im Zimmer ist es verboten zu rauchen. Die Eingangshalle ist gleichzeitig unser Aufenthaltsraum. Der Hausdiener bringt Milch in großen Kannen. Ich grüße ihn. Er grüßt mich nicht. In einer Stunde gibt es Frühstück. Da werden sie wieder fressen wie die Schweine, meine Mitpatienten, Männer und Frauen. Vorher keinen Kaffee, leider. Nur im Schwesternzimmer. Die Schwestern werden mir keinen geben. Keine Extrawürste. Oder sie werden Abweichung, gar Renitenz vermuten. Dann wird mich ein Arzt womöglich demnächst fragen, warum ich unlängst partout um sechs schon Kaffee wollte. Lieber nicht fragen. Schweigend rauchen. Die Stille genießen, solange kein Mitpatient kommt und Krach macht. Persönlich. Oder das Radio hier aufdreht. Meist tschechische Sender, die niemand hier versteht. Oder nur die Putzfrauen. Die vielleicht. Es ist die ruhigste Stunde am Tag. Ich könnte im Park spazierengehen. Die Tür des Hauses ist offen. Ich fürchte, nicht zurückzufinden. Ich fürchte, den Zeitpunkt für das Frühstück zu verpassen. Ich bleibe sitzen. Wie geht es Ihnen heute? fragt die Psychologin. Danke, gut. Es ist in jedem Fall besser, danke, gut zu sagen, egal, wie es einem geht. Das lernt man schnell. Wer schlecht sagt, muß wahrscheinlich länger bleiben. Und fast niemand ist gern hier. Was haben Sie heute vor? fragt die Psychologin. Ergotherapie, Bewegungstherapie, Musiktherapie vielleicht, Offene Gruppe antworten die meisten der zwanzig bis dreißig Patienten, die in der sogenannten Morgenrunde im Gesprächskreis mit der Psychologin sitzen. Haben Sie Wünsche, Beschwerden? Die Wursträder für das Frühstück sind zu dick geschnitten. Über anderes als solche Banalitäten beschwert man sich besser nicht. Man sagt auch nicht, dass der Therapiemarathon keineswegs dem entspricht, was ein freies Individuum für diesen Tag eventuell vorhaben könnte. Wir sind keine freien Individuen. Wir sind Patienten am Steinhof. Sicher ist dieses brutale Synonym für Wahnsinn und Irrenanstalt längst durch eine hübschere Formulierung ersetzt. Es heißt Psychiatrisches Krankenhaus der Stadt Wien auf der Baumgartner Höhe. Die Patienten nennen es auch Psych. Klingt wie Pferch. Seit halb zehn male ich mit Kreiden auf einem Zeichenblatt. Dies ist meine Form der Ergotherapie. Sie erinnert an Basteln und Werken in der Schule. Manche stricken, weben, bemalen Seide, machen Tonfiguren oder Laubsägearbeiten. Trainiert Gedächtnis und Motorik, sagen die Pflegenden. Die vorher durch Medikamente zerstört wurden, höhnen die Pfleglinge. Ich möchte eine Katze zeichnen, deren Unterkörper eine Frau ist. Lieber nicht. So etwas gibt es nicht. Nur nichts Verrücktes tun. Realistisch bleiben. Wieder droht die Verlängerung des Anstaltsaufenthalts in meinem Kopf. Mittagessen um zwölf, danach Bewegungstherapie. Ob ich mein Becken spüre. Seltsame Frage der Physiotherapeutin. Leise Musik. Bei "Bird on a Wire" beginne ich zu heulen. 16 war ich, als meine Freundesclique dieses Lied mit Inbrunst grölte. Matura, Studium, erste Wohngemeinschaften, eine Zeit in Frankreich, eine Zeit in den Vereinigten Staaten. Erst in den beruflichen Karrieren verloren sich die meisten aus den Augen. Wohnungen und Autos wurden größer, Gehälter und Verantwortungen auch. Ich war zuletzt Managerin in einem der größten Unternehmen.
Die Polizei lieferte mich hier ein. Ich war zuletzt Managerin in einem der größten Unternehmen Österreichs. Die Psychiater nennen meine Krankheit Psychose.
Österreichs, direkt dem Vorstand unterstellt. Jetzt bin ich arbeitslos. Die Polizei lieferte mich vor vier Wochen hier ein. Ich war die ganze Nacht in der Stadt herumgelaufen, hatte kein Geld mehr. Ich mußte mich ausruhen und versuchte, mich in ein Lokal zu setzen, ohne etwas zu konsumieren. Nach mehreren Hinauswürfen saß ich in kalten Stiegenhäusern, klingelte schließlich bei Privatwohnungen und setzte mich in eine, deren Tür mir geöffnet wurde. Ich nahm eine Schere, die dort lag, in die Hand. Der Wohnungsbewohner fühlte sich bedroht und rief die Polizei. Sie fuhr mich in eine Wachstube, verhörte mich äußerst grob und sperrte mich danach splitternackt in eine winzige Zelle mit obszön beschmierten Wänden. Die Polizisten befahlen mir, mich zur Wand zu drehen und mich zu bücken. Ich konnte in diesem Moment nicht anders, als an Vergewaltigungen durch Polizisten zu denken. Ich war mehr Tier als Mensch vor Scham und Panik. Ich heulte und schrie, man möge mich in ein Krankenhaus bringen. Das geschah endlich auch. Müde bin ich. Und brav. Ich schlucke täglich viele bunte Pillen. Die beruhigen. Oft kann ich Körperteile nicht kontrolliert bewegen. Das ist meine durch die beruhigenden Medikamente bedingte Parkinson- Krankheit. Die Psychopharmaka, genauer Neuroleptika, bewirken eine allgemeine Abgestumpftheit, Antriebslosigkeit, Geistesschwäche und Konzentrationsmängel. Ich bin nicht in der Lage, eine Zeitung zu lesen. Nahezu alle Patienten werden am Steinhof mit Neuroleptika ruhiggestellt, obwohl in vielen Fällen Dauerschäden auftreten. Das ist bequemer für den Anstaltsbetrieb. Die Psychiater nennen meine eigentliche Krankheit Psychose. Im Pschyrembel, dem klinischen Handbuch schlechthin, werden Psychosen mit effektvollen medizinischen Wortkaskaden scheinbar erklärt, die jedoch nur verschleiern, dass auch Ärzte bis jetzt nicht zu wissen scheinen, was eine Psychose wirklich ist. Ihre Ursachen sind ungeklärt. Ein Zusammenspiel von Armut, Gewalt in der Kindheit, Familienkonflikten, Krieg, Einsamkeit, Diskriminierung und genetischen Faktoren ist wahrscheinlich. Ihr Verlauf ist ungeklärt. Ihre erfolgreiche Behandlung ist ungeklärt. Was heißt gesund? Umso anmaßender, dass die klassische Psychiatrie Psychosen zu den unheilbaren Erkrankungen zählt. Bei so viel Nichtwissen könnte sie ihren Patienten zumindest ein Quentchen Hoffnung lassen. Meine Psychose führte nach und nach zu einer schließlich dramatischen Veränderung meiner Wahrnehmung. Ich entdeckte Dinge, das heißt: Kleinigkeiten, die normalerweise unbeachtet blieben, drangen in mein Bewußtsein und gewannen übergroße, verzerrte Bedeutung. Die Farbe eines Bleistifts, ein Liedtext im Radio, die Beschriftung eines Geschäftes, ein achtlos weggeworfener Zettel auf dem Gehsteig, eine zufällig mitgehörte Bemerkung Fremder zum Beispiel. Und selbstverständlich waren alle diese Beobachtungen auf mich gemünzt. Mit einem grünen Bleistift konnte ich nur meine Hoffnungen aufschreiben, sonst nichts, denn die Farbe Grün bedeutet doch Hoffnung. Wenn ein Spielwarengeschäft zufällig Hobby- Sommer hieß, konnte das doch nur bedeuten, daß ich den kommenden Sommer meinen Hobbys widmen mußte. Wenn Fremde zueinander meinten: Hat zu lange Haare (Walter, Tante Mizzi, irgendwer), führte mein nächster Weg zum Friseur, Haare schneiden, denn gewiß waren doch meine zu langen Haare gemeint. Meine Umgebung ertrug mich schon nicht mehr, wo mein spontanes Reagieren auf meine spontanen Assoziationen für mich noch ein sehr lustiges und verlockendes Spiel war., ein lustvolles Spiel. Am Ende ertrug ich mich selbst nicht mehr. Aus dem Spiel war Zwang, aus den Kleinigkeiten waren Gesichte von Horror und Tod geworden. Unsere Gesellschaft beruft sich darauf, einen Menschen in diesem Zustand vor sich selbst zu schützen. Unsere Furcht als Patienten steigt vor Repräsentanten dieser Gesellschaft ins Unermeßliche. Niemals hat ein Arzt am Steinhof mich offen nach meinem Befinden gefragt. Niemals hat mir irgendwer erklärt, wonach die für notwendig befundene Dauer meines Aufenthalts dort bemessen wird. Über einzelnen Stationen brütet ein Klima aus Angst, Unwissenheit und Hoffnungslosigkeit der Insassen mehr als jede medizinische Frage. Wie lange noch? Wie lange noch diese Tortur aus professionell-heiter gegebener Routine und persönlicher Teilnahmslosigkeit? Wie lange noch die endlosen Stunden ohne Autonomie und Privatheit? Wie lange noch? Und die Furcht vor dem Lebenslänglich. Und die Scham. Ich habe ebenso wie andere psychisch Kranke das diffuse Gefühl, selbst eine Art Schuld an der Erkrankung zu haben. Ich bin abnormal. Ich schäme mich, darüber zu sprechen. Nie werde ich mich mit einer überstandenen Psychose schmücken können wie andere mit einem Herzinfarkt. So etwas tut man nicht, und wenn psychische Erkrankungen hundertmal im Steigen begriffen sind. Aus verletztem Stolz, der bohrt, kommt eine bohrende Wut. Laßt uns doch ausnützen, daß wir abnormal sind! Gehen wir Sonntagsspaziergänger im Park schrecken, die scharf auf Verrückte sind. Können sie haben. Gewalttätig, gefährlich, unberechenbar, faul, unbehandelbar, okkult, unverstanden, mystisch wie wir sind. Wir weinen zu leise und lachen zu laut. Noch dazu, wo wir Patienten doch wissen, dass nicht nur wir die Gesellschaft, sondern auch diese uns fürchtet. Und letztere Furcht ein Motiv für unsere Internierung weit draussen am Stadtrand darstellt, wo uns Narren, Verlierer gewöhnlich keiner sieht. Keiner will uns in der Nähe haben. Wochentags gehören uns der Park, das Jugendstiltheater, die Kirche Otto Wagners allein. Ich besuche die Kirche fast täglich, weniger um zu beten, als um die Schönheit jedes Details in mir aufzusaugen. "Gott" hat das für mich allein gemacht, bilde ich mir dann ein. Er spricht durch die Details mit mir, er "denkt" an mich. Das Hauptanliegen der Psychiatrie selbst scheint mir mehr die Wiederherstellung der sozialen Funktionstüchtigkeit eines Individuums denn dessen Heilung zu sein. Tausend kleine Mechanismen wirken hier zusammen: der dichte Therapienzeitplan, der uns einen Arbeitstag vorgaukelt, die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten, die Beachtung von Ordnung, Sauberkeit und Anstandsregeln, winzige Begünstigungen für Kranke, die zeigen, daß sie ihre Lektion gelernt haben, ganz gleich, wie schlecht sie sich fühlen mögen. Die renitenten Taten und Worte bleiben meistens im Patientenkreis. Mitarbeitern der Anstalt gegenüber bemühen wir uns im allgemeinen, vernünftig und realistisch zu sein. Für Zuwendung und auch aus Angst vor Verlängerung der Haft. Viele Patienten verlieren, wie ich, sofort ihren Arbeitsplatz. Die Praxis ist gesetzlich nicht gedeckt, aber Usus. Als Folge davon kündigen Banken meist sofort bisherige Kreditlimits. Viele verlieren, wie ich, ihre Wohnung. Manchen wird, wie mir, der Führerschein entzogen. Arbeitslos, mittellos, obdachlos, immobil, medizinisch unwissend, hoffnungslos. Die Sozialarbeiter, die eine Entlassung vom Steinhof begleiten, versuchen ihr Bestes, aber ihre Möglichkeiten sind beschränkt.
Ich möchte eine Katze zeichnen, deren Unterkörper eine Frau ist. Lieber nicht. So etwas gibt es nicht. Nur nichts Verrücktes tun.
Nicht selten müssen Patienten mit zusätzlichen Problemen kämpfen, zum Beispiel nicht sozialversichert zu sein, oder bei Gefängnisstrafen etwa wegen Drogendelikten. Zwei Jahre später. Heute weiß ich, daß ich aus vielen Gründen Glück im Unglück hatte. Ich bin gesundheitlich wiederhergestellt und frei von Medikamenten. Die Psychose hat insgesamt meine Denkmöglichkeiten mehr bereichert als eingeschränkt. Ich habe durch sie magische und künstlerische, abnormale und renitente Denkformen kennengelernt. Es steht mir heute fast frei - fast, denn das 5 Prokrustesbett der normalen Vernunft beherrscht uns alle -, diese Denkformen zusätzlich zu verwenden. Und sie wieder zu verlassen. Das ist der Unterschied zum Wahnsinn. Im Alltag ist die Welt ärmer geworden. Ich fühle ein leises Nagen: es ist weniger Welt da. Wer will tauschen? Ich bin beruflich neuerlich gefragt und viel unterwegs. Ich wohne in einer schönen Wohnung, dazu noch in einem kleinen Haus auf dem Land und habe mir ein glückliches Privatleben schaffen können. Nichts davon wäre ohne die Hilfe von anderen Menschen möglich gewesen. Oft genug war dies materielle Hilfe. Entscheidender noch war ihre seelische Hilfe: ihre Anteilnahme, ihre Anwesenheit, ihre Aufgeschlossenheit, ihre Achtsamkeit, ihr Schutz, ihr Verständnis, ihre Geduld, ihr Humor. Sie haben zugehört und ernst genommen. Sie haben mich wieder sprechen gelehrt. Ich möchte ihnen danken. Und allen, die psychisch Kranken in ihrem Leben noch helfen werden. (Ende)