MITGLIEDER
Text von:Margarita Fuchs
Aus der Erzählung: Willkommen (2008)
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Es ist nicht Vasile, auf den die Sonne scheint und seinen Wirbel unter der Perücke glättet. Seine Kopfhaut dampft, und er kann nicht mehr in einem Stück denken. Es ist auch nicht Bogdan, der Gitarrenspieler, Irgit, der tanzende Mongole, oder Pedro, der Puppenspieler. Es ist György, der Ungar, und seine Sonne, die gelb, giftig und beständig vom Himmel sticht, als wäre sie mit einer Schnur an seinem Handgelenk festgebunden. Der Brunnen am Alten Markt ist nach rechts gerückt, in Richtung Alte Hofapotheke, mit bloßem Auge kaum auszunehmen, während sich die linke Häuserzeile ganz offensichtlich nach vorne beugt. György wird sich den Winkel merken müssen. Die Pflasterung hebt und senkt sich mit seinem Atmen, ein flirrendes unruhiges Raster aus Grau und Graurot legt ein Mosaik aus tausend Steinen. Oder sind es mehr? Welche Verführungsstrategie ist anzuwenden, um darin nicht unterzugehen? Die Sonne singt und pfeift. György wünscht sich in sein dunkles schattiges Zimmer zurück, das er mit dem Polen teilt. Ein Tisch, noch ein Tisch, die Beine sind aus gestapelten Zeitungen, sie tragen eine Platte aus grünem Kunststoff, darauf warten ein paar aufgeschlagene Hefte wie Dreiecke, mit dem Rücken nach oben, zwei, drei gebrauchte Gläser und eine halbleere Flasche. Vier Stühle sind keine gerade Zahl, sondern eine Garderobe, auf den Matratzen liegen zwei Decken und zwei Polster, sehr ordentlich und gescheitelt.
Um Vasile zu sein, müsste György viel älter, vielleicht auch größer und stärker sein, vielleicht auch an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Aber da beide voneinander nichts wissen, hat es kein Gewicht. Die, die voneinander wissen, bunkern Taschen, Koffer, Rucksäcke, auch Kartons, um einander zu treffen oder um heimlich wieder abzuhauen. In jedem Fall bedeutet das Wissen voneinander eine erhöhte Aktivität und den Erwerb gewisser Utensilien: eines Huts, eines Stocks, eines Regenschirms, dazu kommen Fahrpläne, Landkarten, Proviant, eine Portokasse – und Zeit. Doch wer hat die schon? Nicht einmal György, der auf seinem stabilen Podest steht, denn von Amts wegen müsste er nach einer Stunde seinen Platz räumen. Um nach angemessener Zeit wieder aufzutauchen. Tut er auch. Wer kontrolliert schon die Gesetze? Wer will sich den Schweiß vom Gesicht wischen, um sich den missbilligenden Blicken der Passanten oder einer rigorosen Zustimmung auszusetzen?
Bis jetzt hat György im Leben immer Glück gehabt. In Esztergom verlegte er für harte Euros Leitungen und Fliesen in Kellern und Garagen, in Nyiregyhaza entfernte er aus pompösen Hotelzimmern Staub und Wanzen, die sich hartnäckig in schwerer kaukasischer Nuss, vertäfelt, gedrechselt oder auch im ganzen Stück, verschlissen und weich gepolstert, über die Zeiten hinweg gehalten hatten. Selbst in schwarzen unförmigen Telefonhörern und böhmischen Kristalllustern fand er die Fossilien einer korrupten Nomenklatur, die er zwar selbst nicht mehr bewusst miterlebt hatte, sehr wohl aber ihre Auswirkungen. In Budapest erstand er sein Kostüm, ein paar abgetragene Sachen aus dem Theaterfundus. Fünf Monate lang war er hinter den Kulissen für alles zuständig, was nicht mit Kunst zu tun hatte. Ist es denn keine Kunst, zu schauen, zu riechen, zu hören, den Moment festzuhalten, kurz bevor der erste Takt, das erste Wort einsetzt, das Licht langsam erlischt, das Husten in den Reihen aufhört? Wer leckt da kein Blut?
Manchmal wünscht sich György an sein Theater zurück. Doch dann schaut er sich selbst bei seiner Arbeit zu. Er weiß, wie gut er sein kann und was gut für ihn ist. Dann entwischt er seiner Angst, und alles beginnt von vorne. Andrej, der Portraitmaler, kann von einem Sommer in der Festspielstadt den ganzen russischen Winter lang leben, mit Familie. Irgit sogar den Rest des Jahres, vorausgesetzt, er kehrt zu seinen drei Schwestern in die Mongolei zurück. György hat größere Pläne. Vorerst will er sich aber nur über Wasser halten, um später ein funkelnagelneues Meer zu entdecken. Am besten mit einer Frau. Reich und schön. Die Pirouette auf dem Podest ist seine Erfindung, exklusiv, weil alle glauben, mit ihrer Beherrschung auf dem Boden bleiben zu müssen. Sie bringt gutes Geld und ein Schulterklopfen von den Kollegen. Wie schlecht sie sind. Wie sie Schritt für Schritt die Kunst der Pantomime verfälschen, verwässern, vergeigen. Jeder für sich ein Dilettant, unfähig, die Winkelzüge seines Körpers zu beherrschen, jeder unter seiner Verkleidung ein Narr und kein König. Als wüssten sie nicht, dass es immer um alles geht. György weiß es: um den Ort, den Platz, die Stunde, das Wetter, die Überwindung, den Anfang und was danach kommt, eine Geschichte erzählen, mitsamt ihrer Größe, ihrer Stille und dem Abgang. Sie sind nicht zu retten, denkt er, wenn er sieht, wie sie sich zwinkernd bedanken, kaum in der Lage, auch nur sechzig Sekunden ruhig zu stehen. Sie zappeln den Kindern entgegen, lachen und locken mit Fingern, mit Händen. Dabei gehört die Hand eines Pantomimen niemals ihm selbst oder dem Zuschauer, sie gehört einzig und allein der Figur.
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