MITGLIEDER
Text von:Valerie Fritsch
Der Weltuntergang (Romanauszug)
Seitdem man sicher gewesen war, dass die Welt untergehen würde, spielte das Radio nur Joy Division und Rachmaninow in den Morgenstunden. An den Regentagen vermisste man die Sonnenaufgänge und den schönen glaubte man die Makellosigkeit der Himmel nicht. In den Nächten wusch man sich die Schatten von den Gesichtern und war überrascht, wenn die Fensterkreuze und der Mond in den Spiegeln nicht verschwanden von der nachtblassen Haut und den brunnentiefen Sorgenfalten. Das Gras: hochgewachsen in den Gärten oder abgebissen bis auf die Erde. GUNS and GIRLS stand auf den geschwärzten Fenstern der Bahnhofshallen und Klatschmohn blühte wie tausend Münder auf den unbelebten Straßen: lippenstiftrot und nuttig. An den Ecken wiegten sich die Betenden stumm eingeknickt über den Rosenkränzen und Gebetsketten und klackerten mit den Glassteinen, die durch die Hände glitten wie Sand. Die Zigaretten steckten fest zwischen den zusammengepressten Lippen und die Kirchenschiffe bogen sich Tag und Nacht unter den Menschenmassen, die im Gedröhne der Glocken wahnsinnig vor Angst um Gnade flehten.
In den fehlgeschalteten Ampeln klickte es ohne Unterlass und auf den parkenden Autos saßen entkommene Kanarienvogelschwärme, die, mit auf den Karosserien kreischenden Krallen, heiser singend über die Blechdächer stelzten. Die Schachspieler saßen einander in lakonischem Clinch gegenüber und die vornehmen Damen, die ihre Bürsten in der Aufregung nicht fanden, frisierten ihre Pelzmäntel nervös mit Speisegabeln vor dem großen Tag, um schön zu sterben. In den Wettbüros standen die Quoten sagenhaft gut gegen die Apokalypse, auch wenn Geld bereits seit über hundert Tagen keinerlei Rolle mehr spielte. Die letzten sieben Monate hatten die Gewissheiten ausgelöscht und die Unwahrscheinlichkeiten zu einem Katalog des Schicksals gemacht. Hysterischem Unglauben war gebieterischer Fanatismus gefolgt und die Gesellschaftsstrukturen dröselten sich erst gar nicht auf und dann in Raserei und Lichtgeschwindigkeit wie ein selbstgestrickter Pullover. Die Diktaturen waren gefallen oder baumhoch gewachsen und die Wissenschaft begann sich selbst zu verdauen und ihre Kinder zu fressen. Die Zukunft als schlimmste Gewohnheit von allen war ausgeblieben mit der ungläubigen Lähmung der Millionenstädte.
Man versuchte eine Normalität aufrechtzuerhalten, an der man bereits unter anderen Umständen gescheitert war. Die Straßen waren stille Meere in der Nacht und spröde Kerben in der Stadt, aber die Vergeltung tobte ohne Unterlass hinter den Fenstern. Bevor die Welt unterging, wollte man reinen Tisch machen und alles sagen, was einem sonst zu schwer fiel. Rache wurde ein Wort, das in den Hirnen wuchs, bis es auf der Zunge liegen blieb oder die Hände zu Fäusten ballte. An den Krankenbetten der verlassenen Krankenhäusern saßen die Töchter und Söhne und zählten die Fehler ihrer Eltern auf vor den müden Gesichtern der Mütter und Väter, bis sie keine mehr finden konnten. Sie schrien die Verfehlungen ihrer Kindheit auf die Alten hinab, bis sie traurig wurden und wenn sie traurig waren, wurden sie wieder wütend. Die Greise drückten sich tief in die Betten und zitterten mit ihren faltigen Mündern und den wässrigen Säuglingsäuglein. Die mitgebrachten Stofftiere hangen in den Krankenbetttrapezen wie an Galgen und die Krankenschwestern wendeten die Särge wie ein Auto, wenn sie die Toten aus den Zimmern schafften. Die Wahrsager saßen in den Ecken der Bahnhöfen und erzählten von der Zukunft wie von einer Legende und über den Schienen und Oberleitungen stoben die Tarot Karten im Luftzug. Die nervösen Schwangeren gebaren mit melancholischen Gesichtern vor der Zeit und trugen die Kinder wie einen Tod in den Bäuchen. Man fütterte die faltigen Frühgeburten wie Vögel und wusste nicht, was man den Kindern wünschen sollte für ihr winzig kleines Leben. Vor den Geburten klammerten sich die fremden Menschen an die riesigen Leiber der Frauen, um auf die Herzschläge der Babys zu hören und Trost zu finden. Nach den Geburten waren die zusammengesackten Bäuche Ruinen und die Väter verkrochen sich in den Hautfalten der frischgebackenen Mütter und weinten.
Quelle: Die VerkörperungEN: Roman. Leykam, Graz 2011