MITGLIEDER

Text von:
René Freund

Nicht integrierter Inländer

Ich bin sprachlos. Das ist jetzt nicht als Floskel gemeint, sondern wörtlich. Ich bin sprachlos, im Sinne von: Ich habe keine Sprache.

Zugegeben, ich komme in Italien durch, ohne verhungern zu müssen. In England kann ich zudem noch Zeitungen lesen, in Frankreich mich mit den Leuten unterhalten. Die deutsche Sprache beherrsche ich, wie man so leichtfertig sagt, in Wort und Schrift.

Aber in Grünau im Almtal, also dort, wo ich wohne, versteht mich niemand. Dabei bin ich ein sprachliches Chamäleon oder halte mich wenigstens dafür. Wenn ich zum Bäcker gehe, lausche ich sehr aufmerksam, wie die Leute vor mir sprechen. „Griaß Goud“, sagt die Dame mit dem Hut mit der Feder, und: „Zwoa Sömmin bitte.“

Da ich die Sprache der Eingeborenen schon länger studiert habe, weiß ich, dass die Dame gegrüßt und dann zwei Semmeln geordert hat. Ich kenne den Tonfall, die Aussprache jeder Silbe genau. Ich habe sogar zu Hause geübt. Und so trete ich selbstbewusst vor die Bäckerin, werfe ein lässiges „Griaß Goud“ hin und füge nonchalant: „Zwoa Sömmin, bitte“ hinzu. Worauf diese mich fassungslos ansieht und in ihrer schönsten Hochsprache fragt: „Zwei Semmeln wünschen der Herr?“

Auch bei den Bauern am Felde gewinne ich keine Freunde, da kann ich noch soviel vom bewölkten „Hümmi“ sprechen. Es bleibt auch wirkungslos, wenn ich Trümpfe aus dem „Örmi“ schüttle, wie etwa die Verwendung des Wortes „drabig“ statt „eilig“.

Dabei habe ich mich wirklich bemüht. Ich weiß, dass man statt „zwei“ „zwoa“ sagt, aber nicht „droa“, sondern „drei“. Aus irgendeinem Grund scheint mir das sogar fast logisch zu sein. Ich weiß auch, dass es „woaß“ heißt, wenn ich etwas weiß, aber „weiß“, wenn ich eine Mauer anstreiche. Das verstehe ich zwar nicht, aber ich akzeptiere es und versuche es zu verinnerlichen. Es nützt aber alles nichts. Ich bleibe immer ein Fremder. Ein nicht integrierter Inländer.

Das liegt aber sicher nicht an den Oberösterreichern. Mir passiert das überall. Gut, in Kärnten fällt man weniger auf, weil die Kärntner vor lauter Tourismus schon bald selber nicht mehr wissen, wie sie eigentlich reden. Bei den Tirolern hat jeder Nicht-Tiroler sowieso keine Chance, auch kein Problem. Aber wenn mir ein Trafikant selbst in meiner Geburtsstadt Wien „noch einen schönen Aufenthalt in Österreich“ wünscht, dann erschüttert mich das schon ein bisserl. Und so ergeht es mir immer – in München, in Eisenstadt, Frankfurt, Innsbruck, Bregenz, Kiel, Graz, Zürich oder Wels. Es gibt keinen Platz im gesamten deutschsprachigen Raum, wo man mir nicht die Frage stellt: „Sagen Sie, wo kommen Sie denn eigentlich her?“ Und die Unterstellung liegt nahe: Wahrscheinlich vom Mond, irgendwie.

Und dann, als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, habe ich auch noch diesen Namen. René. Vom trotzigen Ronnie über das bemühte Ränä bis hin zum mundlesken Renne reichen hier die Interpretationen, von den schriftlichen Verunstaltungen ganz zu schweigen: Renée, Renè, Réné, Rainier sind nur die gängigsten Varianten.

Ich bin also nicht nur sprachlos, sondern auch namenlos. Eigentlich bin ich also heimatlos. Nein, ich will kein Mitleid. Höchstens ein bisschen Verständnis.

Falls Sie mich überhaupt verstanden haben.

 

Quelle: René Freund, „Stadt, Land und danke für das Boot“, Picus Verlag, Wien 2002