MITGLIEDER
Text von:Ute Erb
Lob der Pünktlichkeit / im Stile Brechts
Vorbemerkung:
Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.
Deutsches Sprichwort.
Freilich zu loben ist der, der immer da ist,
auf die Sekunde dort, wo er gebraucht wird -
wozu denn, von wem auch -, egal,
welche Sekunde die Welt gerade zählt
(die Geschichte betrachtet als Zeiger der Uhr).
Doch lobt mir, Genossen, auch den, der
zur Arbeit zu spät kommt: und doch kommt!
Er gerade ist der, der gebraucht wird als er -
und das weiß er, überwindet die Schmach,
zuletzt gekommen zu sein, im Interesse
der andern, der Arbeit, in seinem.
Fragt nach dem Grund der Verspätung!
Kümmert euch ernsthaft um den,
der noch kommt. Lernt aus den Gründen!
Bewundert den Mut, den der hat,
die Kraft, die er aufbringt.
(Hätt sich auch krank melden können,
Preisfrage: Wer von uns nennt sich gesund?)
Notfalls beherzigt die Einsicht: Wir drehn
das Geschichtsrad zu schnell, dort fehlt ein
Getriebe. Ist es das Rad der Geschichte?
Der Sumpf, aus dem wir uns retten,
ist giftiger, als wir geträumt.
Ist jedoch Unberührtheit schon Tugend,
Berührtwordensein - ist"s das Ende?
Sind die Sekundenzähler
denn die Geschichte persönlich?
Sind sie - weil pünktlich - schon Vorbild?
Worin denn?
Vielleicht haben sie (wie der König)
nur zuwenig zu tun.
Pünktlichkeit und Disziplin,
das sind so verschiedene Dinge
wie das Benehmen bei Hof
und einfache menschliche Güte.
Welch schwacher Stolz, nie zu fehlen!
Welch verwegner hingegen,
immer wieder zu kommen. Trotzdem!
Trotz des lahmarschigen Ticktacks.
Wenn"s drauf ankommt,
bleibt eben die Stempeluhr stehen.
Quelle: Schulter an Schulter. 75 Gedichte und Sprüche auf einen Griff. Edition Neue Wege, Berlin 1979