MITGLIEDER

Text von:
Anja Sturmat

Ausschnitt aus: „Sorgfältig Aufbewahrt – Motive aus dem Leben meiner Mutter

Die Uroma sitzt vor mir, wie in Stein gemeißelt mutet sie an, und erst viel später erkenne ich Ähnlichkeiten mit Käthe-Kollwitz-Figuren in ihren Umrissen. In meiner Erinnerung sitzt sie, worauf, weiß ich gar nicht genau, und bewegt sich nicht. Sie trägt klobige gefütterte Hausschuhe, ihre Beine sind mit kakaofarbenen Binden umwickelt, die unter dem wadenlangen Rock hervorschauen.
Wenn wir die Wohnung betreten, begegne ich zuerst ihrem Geruch, den meine Mutter bei jedem Besuch auszulüften versucht, sie geht beim Eintreten ins Wohnzimmer gleich zum Fenster und öffnet es. Ich dagegen strebe sofort auf das mit braunem Kunstleder bezogene Fußhöckerchen zu, das gebogene Kufen statt Beine besitzt, und schaukele den ganzen Besuch lang hin- und her. Mal wippe ich sanft und träumerisch, lausche den Stimmen der beiden Frauen, folge den Wachtraumgestalten, die aus den gesprochenen Lauten entstehen, die „-anten“ und „-ele“ formen sich zu dicken, gemütlichen Tieren, auf deren Rücken ich über eine Wiese wandele. Ich schaukele im Rhythmus ihrer behäbigen Schritte, summe leise dazu. Werden die Laute schärfer, bestimmter, verschließen sich plötzlich, dann droht Gefahr, und ich muss schneller reiten, die Kufen schaben über den Holzfußboden, und meine Mutter ermahnt mich mit einem Zischlaut. In wonniger Aufregung werfe ich mich nach vorne und kippe von dem Höckerchen herunter, poltere auf den harten Boden. Ich will mich am Tischtuch hochziehen, doch meine Mutter packt mich blitzschnell am Handgelenk, ich jaule auf, weil ihr Griff mich jäh die Begrenzung meines Körpers spüren lässt, der rauschhaft bis gerade eben noch alle möglichen Formen annimmt, die ich mir vorstelle.