MITGLIEDER

Text von:
Hubertus September

flucht nach wê (Auszug)

…ich schleppe mich mit letzter Kraft zur Rasumofskygasse, zum Wohnhaus vom Musil mit der Tafel dran. Sie hängt sehr tief. So tief, dass ich sie berühren, meinen Rücken an sie lehnen kann.
Heute Abend um 21.02 Uhr sind wir 365 Tage in Wien. Jetzt geht mir die Puste aus. Das Leuchten hat sich erledigt.
Es wird dunkel und ich lehne mich an die angenehm kühle Tafel.
War die nicht am 1. Stockwerk oder zumindest in Höhe Mezzanin befestigt? Ist das ganze Haus zusammengeschnurrt oder sind meine Beine davongewachsen?

HIER WOHNTE
UND SCHRIEB
VON 1921-1938
DER DICHTER ROBERT
MUSIL
GEBOREN 1880
IN KLAGENFURT
GESTORBEN 1942
IM GENFER EXIL


Das ist das Ende meines Wiener Höhenfluges. Jetzt kommt die knallharte Landung.
Einige meiner Anverwandten kommen aus einem der anliegenden Gebäude und umkreisen mich wie Raubvögel. Onkel Winfried trägt seinen besten Anzug und winkt mit einem 500 Euro Schein. Hatte ich mich nicht ordentlich dafür bedankt? Oder vielleicht nicht höflich genug? Zu flapsig? Schon möglich.
Tante Inga flattert aus einer Dachluke. Sie trägt die altmodische Tracht einer Diakonieschwester - mit so einem Schwan aus Servietten auf dem Kopf. Sie flüstert mir ins Ohr: Nächstenliebe ist ja schön und gut, aber es muss auch etwas dabei rausspringen, mein kleiner Traumtänzer! Dabei reibt Tante Inga Daumen und Zeigefinger gegeneinander, wie so ein Ganove aus einem alten französischen Film.
Urplötzlich flutet eine ganze Armee aus dem prächtigen Palais direkt gegenüber. Das große Eisen Tor geht unter dem Getöse irgendeiner Marschmusik zweiflügelig nach außen hin auf und in Zweierreihen marschieren hunderte Soldaten der Roten Armee über die Straße in Richtung Rochus Markt.
Ich hänge wehrlos -mittlerweile wieder Hochparterre- angeschmiedet an die Robert Musil Gedenkplatte…