MITGLIEDER
Text von:Eva Schreiber
Sandine ging mit großen Schritten
Sandine ging mit großen Schritten, ein bisschen breitbeinig, die Fußspitzen nach außen gedreht. Auf dem mit Henna orangerot gefärbten Haar trug sie einem schwarzen Männerhut. Mit dem Lippenstift malte sie über die Ränder der schmalen Lippen hinaus. Um Begrenzungen kümmerte sie sich schon lange nicht mehr. Sie stöberte in teuren Boutiquen nach eng anliegenden Kleidern und seidigen Dessous, die sie ihren jeweiligen Liebhaber bezahlen ließ, sie rauchte lange, dünne Zigaretten und blies ihrem Vis a vis ungerührt den Rauch ins Gesicht. Sie war der Fixstern eines eigenartigen Sonnensystems. Schauspieler, Sänger, arbeitslose Pharmazievertreter und angehende Psychotherapeutinnen in Selbsterfahrung umkreisten Sandine in wechselnden Abständen und Geschwindigkeiten. Nur einmal sah ich sie einem Zusammenbruch nahe, als der schwule Frisör ihres Vertrauens vor einer spontanen Verabredung beim besten Willen keinen Termin für sie freimachen konnte. „Ich sterbe, mon chéri“, hauchte sie in das mit Glitzer verzierte Mobiltelefon. Sie lauschte noch einen Moment, wartete, ob Stefano nicht doch noch ein Fuzzelchen Zeit für sie übrig haben würde. Schließlich beendete sie das Gespräch mit einem beleidigten „Dann eben nicht!“ und sagte das Date ab.
Als wir uns nach Jahren zufällig trafen, erzählte sie vom Schlaganfall ihrer Mutter, der schwierigen Suche nach einem Pflegeheim, das ihren Ansprüchen entsprach, dem Schock, als ihr die Mutter mitteilte, dass sie wohl nur mehr kurz zu leben habe. „Bleib noch, ich brauche dich doch“, habe sie geweint, und die Mutter sei geblieben. Über Monate habe sie ihre Mutter jeden Montag um 16 Uhr besucht, sich wortreiche Lamenti über die Unzumutbarkeiten des Alters und die Unzulänglichkeiten der Pflege angehört. Doch als Sandine einmal überraschend vorbeigekommen war, weil sie einen Termin in der Gegend hatte, habe sie ihre Mutter in munterem Geplauder mit einem Galan vorgefunden. Gerade habe sie noch aufgeschnappt, wie er fragte, ob sie auch ein Kaviarbrötchen wolle. Die Mutter habe nach einem überraschten Blick auf die Tochter brüsk abgelehnt. „Warum denn bloß, meine Liebe, sonst liebst du doch Kaviar“, habe der gepflegte alte Herr besorgt gesagt. Die Mutter habe das Gespräch in andere Bahnen gelenkt, man habe zu dritt über dies und das geplaudert und einen leichten Weißwein getrunken. Als sich Sandine verabschiedete, sei der alte Herr aufgestanden, er habe eine Verbeugung angedeutet und gesagt „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Mir scheint, Sie sind Ihrer Mutter sehr ähnlich!“
„Was soll ich mit dieser selbstsüchtigen Matrone gemein haben, frag ich dich.“ Sandine sah mich empört an. Dann lächelte sie und fügte hinzu: „Ein Gutes hat die Sache ja, ich weiß jetzt, dass Mutter dort gut aufgehoben ist. Ich denke, ein Besuch pro Monat sollte reichen.“