MITGLIEDER
Text von:Beatrix Kramlovsky
Ausschnitt aus „Die Lichtsammlerin“ Roman, hanserblau/Hanser 2019
Wir bauen uns ein eigenes Zuhause auf, hatte Albert beim Antrag gesagt. Das war 1950 passiert, während einer Radtour ins Salzkammergut, gemeinsam mit Erikas zwei Freundinnen, die dafür aus der englischen Zone extra angereist kamen. Albert irritierte nicht, dass sie mit von der Partie waren: Ein Mann, von Schwestern erzogen. Die Freundinnen fanden das vielversprechend für die Zukunft. Erika war nicht sicher. Der Krieg hatte sie alle auf grausame Art verwundet. Alberts weiße Haare waren das harmloseste sichtbare Zeichen. Was wissen wir schon vom Himmel und allem, was wir uns wünschen, dachte sie. Der Liebe wollte sie nicht mehr trauen. Sie hatte nur mit Abschieden zu tun. Abschiede waren ein Vorgeschmack auf die Hölle.
Erikas Vater behauptete, Menschen bestünden aus mehreren Lagen; Je mehr passierte, desto mehr Schichten. Liebe wäre dazu da, abzutragen, das Schöne zu fördern, aus den Halden einen gemeinsamen Berg zu errichten. Er sagte es jetzt immer noch, obwohl er im Steinbruch seiner Ehe alleine kauerte, mit Erinnerungen, die erschlugen anstatt schon zu trösten.
Als Erika Wochen nach der Katastrophe, Wochen nach dem Begräbnis ihrer Mutter 1946 wieder zurück ins Haus kam, knochendürr vom gerade überstandenen Typhus, hatte sie sein Lager im Wohnzimmer weggeräumt und ihn zu dem verwaisten Doppelbett geführt. Du musst lernen, es in Rosas Geruch auszuhalten, hatte sie gesagt. Du kannst dich nicht aus eurem Leben aussperren, schon gar nicht, wenn ich ab dem Herbst in Wien bin. Sie hatte nicht dazugesagt, dass er sich um ihren Bruder kümmern musste. Der Vater würde Walter nicht im Stich lassen.
Als sie dann im Herbst in die von allen Alliierten besetzte Hauptstadt ging, zerrissen von Trauer und der Aufregung über ihr neues Leben, schenkte ihr der Vater das Briefpapier, das er vor langer Zeit, als sie noch ungefährdet Kontakte in viele Länder pflegte, für Rosa hatte anfertigen lassen. Unzählige feine, cremefarbene Bögen mit rosa Rändern, rosa Bütten Kuverts. Die handgemachte rosenfarbene Schachtel war noch zur Hälfte voll. Auf dem Deckel eingeprägt die Initialen der Mutter, in den klaren Lettern des Bauhaus-Stils, den sie Schnörkseln vorgezogen hatte.
Erika hatte dem Vater monatlich geschrieben, von der Universität erzählt, den Schuttbergen, dem Schwarzmarkt, den ersten Seidenstrümpfen ihres Lebens, dem Orgelspiel, mit dem sie regelmäßig ein paar extra Münzen ergatterte. Ein Leben mit eisern auf die Zukunft gerichtetem Blick. Von Janos' Tod hatte sie ihm widerstrebend mündlich berichtet, einmal in den Ferien, als der Vater sie mit in den Wald genommen hatte. Die Bäume sind Heiler, hatte er gesagt. Und er hatte sich gefreut, als sie die Stelle in Linz angenommen hatte. Näher bei ihm. Näher im Vertrauten.
Sie würde dem Vater wieder auf dem schönen Papier schreiben, ihm jetzt sagen, dass eine Heirat anstand. Obwohl sie nicht daheim Hochzeit feiern wollte. Nicht in der kleinen Kirche, die sie seit dem Gottesdienst für ihre Mutter nicht mehr besucht hatte, nicht auf dem Amt, wo die russische Fahne hing, trotz des freundlichen Offiziers, der ihr Erzählungen von Tschechow geschenkt hatte. Am liebsten wäre ihr ein Ort ohne Soldaten gewesen, ein Land ohne Besatzung, eine Stadt ohne Geister und ohne die Stimmen, die sie festhielten.
Albert wollte alles hinter sich lassen. Das konnte sie noch nicht, auch wenn sie es sich brennend wünschte. Albert tat, als läge ihm die Welt zu Füßen, dieser geschundene Planet mit seinen Knochenfeldern. Er sah, was werden konnte. Sie sah, was war. Jeden Tag unterrichtete sie Kinder, die sich noch an die Flieger, das Geräusch sich nähernder Bomben erinnerten, die Angst vor den Soldaten auf der Brücke hatten. Jeden Tag konnte sie vom obersten Stockwerk der Schule, deren Dach nun gerichtet war, zum Strom zwischen den Ruinen blicken. Ein Grab, das die Geister zu vieler Toter mit sich schleppte.