VERSTORBENE MITGLIEDER
Mitglied suchen:Peter Weibel
Biographie
geboren: 05.03.1944 in: Odessa verstorben: 01.03.2023Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel gestorben
Der Medienkünstler, Theoretiker, Provokateur, Sänger und öffentliche Denker nahm es mit der Wirklichkeit auf. Peter Weibel starb 78-jährig "nach kurzer schwerer Krankheit"
Ronald Pohl, Katharina Rustler
Den ehrgeizigen Traum der Avantgarde, Wirklichkeit mit Kunst zu fluten und sie dergestalt zu überwinden, verwirklichte der Medienkünstler Peter Weibel mit apollinischer Anmut. Die Wienerinnen und Wiener staunten 1968 bestimmt nicht schlecht, als sie den angehenden Medienkünstler in der Kärntnerstraße in Bodennähe entdeckten, von der Kollegin Valie Export an der kurzen Hundeleine geführt: Der als Vierbeiner maskierte Medienkünstler hatte, rein spielerisch gesprochen, sein Frauchen gefunden – den trostlosen Machtverhältnissen innerhalb des Patriarchats war damit das treffliche Umkehrbild vorgehalten worden.
Weibel, der 1944 in Odessa geborene, in Ried im Innkreis aufgewachsene Medienkünstler, entstammte dem Umfeld des Wiener Aktionismus. Nicht nur das damalige Künstlerpaar Weibel/Export, sondern eine ganze Phalanx von freien, unbedingt fortschrittswilligen Radikalen riss sich damals gewaltsam los von den Würgestricken künstlerischer Überlieferung.
Aus der Überwindung des Tafelbildes resultierte seit Ende der 1950er-Jahre der unbändige Impuls, eine als trist und reaktionär empfundene Lebenswelt auf die Höhe der eigenen, besseren Einsicht zu bringen: durch Zerreißungsaktionen, durch das Verschütten von Farbe, aber auch durch die Inszenierung von Handlungen, die schnurstracks aus den Galerien hinausführten, hinein in eine lebenslange, durch Theorie und Medienforschung gestützte Praxis.
Ein Pionier der neuen Medien
An diesem Punkt der Erweiterung ins Allseitige kam Weibel ins Spiel. Der gelernte Logiker ersann nur ganz zu Anfang neue Dichtungskalküle wie seine Kollegen von der Wiener Gruppe. Ihm lag nicht unbedingt an einer "Verbesserung von Mitteleuropa" (Oswald Wiener), sondern Weibel annektierte systematisch Spielfelder. Er nahm die Filter in den Blick, die die Wahrnehmung von Realität verstellen.
Weibel prüfte die menschliche Leiblichkeit in Hinblick auf ihre medialen Fähigkeiten. Dieser Tausendsassa praktizierte fortan in Ton, Film, Elektronik und Computertechnik, dazu übersetzte er Einsichten der internationalen Fluxus-Bewegung, also der Nichtkunst, in Skulpturen und Installationen. Wenn ihm darüber das eine oder andere gelegentlich epigonal geriet, so war das nicht weiter von Belang: Weibel war nie dort, wo ihn die schwerfälligen seiner Betrachter vermuteten. Er war längst weitergereist, atemlos auf den Schwingen seines unentwegt theorienproduzierenden Geistes.
Brandrede bei berüchtigter Uni-Aktion
Das flammend Aufrührerische seiner Tätigkeit war noch 1968 augenfällig. Als er im Rahmen der berüchtigten Hörsaal-1-Aktion an der Wiener Universität ("Kunst und Revolution") teilnahm und eine wüste Brandrede gegen die gewählten Vertreter der Republik hielt, reckte er einen brennenden Handschuh. Aber am dumpfen "épater le bourgeois" lag ihm wenig. Irgendwann inkludierte Weibel den Prozess permanenter Theoriebildung in seine künstlerische Praxis, oder er ersetzte diese durch jene. Insofern beantwortete er die berühmte Frage "Was tun?" sicherheitshalber gleich selbst. Wer sich fortan mit Kybernetik beschäftigte, mit den Rückwirkungen von Medienkunst auf die Bildung elaborierter Theorie, der kam – bis zuletzt – um die Auftritte und öffentlichen Denkaktionen des Professors nicht herum.
Weibel beschäftigte sich früh mit Medien- und Computerkunst und nahm zahlreiche spätere Entwicklungen vorweg.
Foto: Atelier Weibel
Weibels künstlerisches Spektrum umfasst Texte, Skulpturen, Installationen, Videos und Filme – später wandte er sich sogar der Musik zu und gründete 1978 mit Loys Egg die Band Hotel Morphila Orchester, eine triumphale Vorwegnahme der Neuen Deutschen Welle – und zugleich ihre Dekonstruktion. In den 1990ern schuf der Medienkünstler und Kurator verstärkt interaktive, computerbasierte Installationen und analysierte das Verhältnis von Medien- und Wirklichkeitskonstruktionen. Von 1993 bis 1999 kuratierte er den österreichischen Pavillon auf der Biennale in Venedig und war von 1992 bis 2011 Chefkurator der Neuen Galerie Graz. Irgendwann schien Weibel sich selbst in lauter Pixel aufgelöst haben: kleine Theoriesplitter, die sich gleichmäßig über die ganze Welt verteilten, bis nach Graz, Linz oder Sydney.
Universitätslehrender und Fantast bis zuletzt
Durch seine vielseitige Tätigkeit als Künstler, Ausstellungskurator, Theoretiker, Universitätslehrer sowie Leiter der Ars Electronica Linz, dem Institut für Neue Medien in Frankfurt und dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) beeinflusste Weibel die europäische Szene der Medienkunst nachhaltig. Sein Markenzeichen aber blieb die gehetzte Diktion, das Salto-Schlagen auf dem Theorieseil, ungeschützt von jedem Netz. Sein Eintreten gegen Waffenlieferungen an die Ukraine 2022 mag man getrost unter seinen weniger blendend begründeten Einsichten verbuchen.
Als Direktor des ZKM in Karlsruhe wollte er sich demnächst zurückziehen und in Wien einen Turm aus Büchern errichten. Dazu kam es nicht mehr.
Foto: Robert Newald
Ein Vierteljahrhundert hatte Peter Weibel das Medienkunstzentrum ZKM in Karlsruhe geleitet. Ende März wäre sein Umzug nach Wien geplant gewesen. Dort wollte der 78-Jährige, wie er erst kürzlich bekanntgab, ein eigenes Bauwerk aus seinen 120.000 Büchern errichten lassen. Diese bewohnbare Bibliothek hätte aus zwei Türmen und einem mittigen Aufzug bestehen und sein neues Zuhause werden sollen. "Der Aufzug ist die Wohnung. Ich werde also in einem großen Lastenaufzug arbeiten, schreiben und schlafen", freute sich der Theoretiker und künstlerische Tausendsassa. Nun wurde Weibel aus diesem Wohntraum für immer herausgerissen.
Später machte sich Weibel weiterhin als Konzeptkünstler, aber auch als Theoretiker im Spannungsfeld von Medien, Technik und Kunst einen Namen. Zudem kuratierte er zahlreiche Ausstellungen. Ab 1976 unterrichtete er an mehreren Hochschulen, bis zuletzt war er Leiter des ZKM. Der vielfach ausgezeichnete und in politischen Debatten engagierte Denker stand dort kurz vor seiner Pensionierung und sei nun "nach kurzer schwerer Krankheit" gestorben, wie es hieß. Peter Weibel wurde 78 Jahre alt. (Ronald Pohl, Katharina Rustler, 2.3.2023)